Cord Meckseper: Zum Selbstverständnis der Baugeschichtsforschung

Zu Beginn des 15. Jahrhunderts verkaufte ein junger Künstler aus Florenz sein kleines Gütchen und begab sich nach Rom, „woselbst er bei der Betrachtung der mächtigen Gebäude und Vollkommenheit der Tempel so verloren stand, daß er außer sich zu sein schien. Er ließ die Gesimse messen und nahm die Grundrisse der Gebäude auf; … ja er hatte nicht Ruhe, bis er alle Arten von Gebäuden gezeichnet hatte, runde, viereckige und achteckige Tempel, Basiliken, Wasserleitungen, Bäder, Bogen, Colosseen, Amphitheater … Er war es, welcher dorische, korinthische und jonische Bauart sonderte, und dies Studium so eifrig trieb, daß sein Geist ihn fähig machte, Rom vor sich zu sehen, wie es vor seiner Zerstörung gestanden hatte.“ Auf diese Weise beschrieb zur Mitte des 16. Jahrhunderts Giorgio Vasari die Anfänge des Begründers der Renaissancearchitektur, Filippo Brunelleschi, und beschrieb damit zugleich die wesentlichen Grundlagen baugeschichtlichen Forschens: Am Anfang staunende Betroffenheit vor der zunächst unbewußt verspürten Qualität eines architektonischen Gegenübers. In der Folge die systematische Annäherung, um die fremde Gegebenheit mit dem Zollstock zu messen, d. h. sich rationalisierend mit ihr auseinanderzusetzen und sie sich durch zeichnerische Darstellung anzueignen. Schließlich der über diesen Vorgang erst mögliche Schritt, hinter dem architektonischen Gegenüber die Konturen seiner geschichtlichen Dimension zu umreißen und damit ein Hauptmerkmal seiner Qualität zu definieren. Die Fähigkeit, vor Architektur sowohl staunen zu können, als auch dieses Staunen durch Aufmaß, Zeichnung und historisches Einordnen bewältigen zu können, zeichnet noch heute den baugeschichtlichen Forscher aus.

Geschichte ist aber nicht etwas Absolutes, das es zu erkennen gilt, sondern etwas, das jeweils aus der eigenen Zeit heraus neu geschrieben und damit konstituiert wird. Architektur durch baugeschichtliches Forschen in ihrer historischen Dimension zu begreifen suchen, heißt daher immer, auch die Frage nach der Zeit und dem Standpunkt dessen zu stellen, der hier sich mit ganz bestimmten, aus seiner eigenen Zeit heraus mit-bestimmten Methoden historischer Architektur nähert. Wenn in der Folge das Methodenrepertoire baugeschichtlichen Forschens angedeutet werden soll, ist dies nicht möglich, ohne die Frage nach der historischen Stellung und bewußten oder unbewußten „Absicht“ derjenigen Forscher zu beantworten, deren Namen mit entsprechenden Methoden in besonderem Maße verknüpft sind.

Sich mit Architektur messend und zeichnend auseinanderzusetzen, um sie auf diese Weise bildlich zu erfassen, ist vor allem die traditionelle Methode des Baumeisters und Architekten, der dabei seine Erfahrungen aus eigener Praxis nutzt. Die großen Renaissancebaumeister Filippo Brunelleschi, Leon Battista Alberti, Baldassare Peruzzi, Giuliano da Sangallo oder Andrea Palladio haben sich dieser Methode forschend ebenso bedient wie eine Vielzahl späterer Bauhistoriker. Methodisch zum Programm erhoben wurde die maßstäbliche Zeichnung in einem Raffael zugeschriebenen Memorandum an Papst Leo X. Es beklagte die weitreichende Zerstörung antiker Bauten Roms noch in neuester Zeit und forderte eine ausreichende Dokumentation aller Überreste durch Grundrisse, Aufrisse und Schnitte. Die damals in Rom gegründete Vitruvianische Akademie entwickelte daraus ein umfangreiches, allerdings dann gescheitertes Programm. Noch heute werden jedoch an vielen Hochschulen Architekturstudenten im Rahmen des Fachs „Bauaufnahme“ in das systematische Erfassen historischer Bauwerke durch maßgerechte Pläne eingeführt.

Dem zeichnerischen Erfassen architektonischer Relikte und Ruinen hat jener Vorgang des Zurückversetzens in den ursprünglich intakten Zustand ihrer Entstehungszeit zu folgen, den wir als Rekonstruktion bezeichnen, zunächst – wie bei Brunelleschi – „im Geiste“, dann aber, die Befunde häufig bereits interpretierend, auf dem Zeichenbrett. Exemplarisch für diese Tätigkeit war Andrea Palladio. Aus seiner Hand hat sich eine Fülle an zeichnerischen Bauaufnahmen erhalten, die auch sein Vorgehen bei der Rekonstruktion antik-römischer Bauwerke, 1570 in den „Quattro libri dell’architettura“ (Vier Bücher über die Architektur) erstmals veröffentlicht, zu erkennen geben. Fast regelmäßig ist in diesen Rekonstruktionen die Wirklichkeit der Fassaden und Raumfolgen zugunsten der Spiegelsymmetrie, Ordnung nach einfachen geometrischen und stereometrischen Grundformen oder durch bestimmte Zahlenverhältnisse festgelegten Proportionen verändert worden. Palladio rekonstruierte die Bauwerke der römischen Antike aus ästhetischen Vorstellungen und Leitbildern, die er wie viele andere seiner Zeit nicht aus römischen Quellen schöpfte, sondern aus Vorstellungen der griechischen Philosophie entwickelt hatte. Es wird deutlich, daß für die Architekten der Renaissance die Bauten der Antike Normen enthielten, die nicht einer historischen Realität, sondern dem Denken der eigenen Zeit entsprangen, in Gestalt zeichnerischer Rekonstruktion jedoch in die Vergangenheit zurückprojiziert wurden, um auf diese Weise von dort, normativ verfremdet, wiederum für die eigene Zeit verfügbar gemacht zu werden. Der Vorgang, sich die Normen der eigenen Zeit durch die Vergangenheit legitimieren zu lassen, ist ein Grundmotiv geschichtlichen Denkens zu allen Zeiten.

Wurde mit Brunelleschi und Palladio eine Grundmethode baugeschichtlichen Forschens zugleich in ihrer Gefahr geschildert, muß gleiches für eine ganz andere Methode gelten, die uns ebenfalls noch in der Renaissance mit dem bereits genannten Vasari entgegentritt. Seine umfangreiche „Lebensbeschreibung der berühmtesten Architekten, Bildhauer und Maler“ ging von der Beobachtung aus, daß die Qualität historischer Architektur nicht aus dieser selbst und allein aus festen ästhetischen Normen erklärbar ist, sondern daß Architektur Anteil an einer geschichtlichen Entwicklung hat, die für Vasari innerhalb seines Renaissancebegriffs aufsteigenden Charakter besaß und sich ihm als Folge ständig neuer Erfindungen (inventioni) darstellte. Hervorgebracht wurden diese Erfindungen durch die Künstler, die zugleich über die Art und Weise der Zeichnung, den disegno, der Architektur ihren individuellen Charakter, ihre maniera, d. h. ihre persönliche Handschrift oder „Stil“ gaben. Es war die Wirtschaftsform der Konkurrenz von Produzenten und ihrer ständig verbesserten Waren, die in den norditalienischen Städten die Entwicklung der Architektur als Ergebnis eines Wettstreits (paragone) ihrer Baumeister zu sehen lehrte und Vasari dazu führte, Kunst und Architektur erst aus der individuellen Biographie der Baumeister und Künstler begreifen zu können. Schon eine Beschreibung der Stadt Florenz aus dem Jahre 1351 enthielt Künstlerbiographien von Cimabue bis Giotto. Mit seinen Lebensbeschreibungen legte dennoch Vasari erstmals Grund für eine bewußt geschichtlich reflektierte Architekturentwicklung als Geschichte ihrer Architekten. Wann immer in späterer Zeit historische Architektur aus sehr viel komplexeren Voraussetzungen ihrer Entstehungszeit zu erklären versucht wurde: Bis weit in unsere Gegenwart hinein blieb doch immer der bauentwerfende Architekt letztlich das Nadelöhr, durch das sich die wie immer definierten Voraussetzungen in bauliche Gestalt umsetzten. Aus diesem Grund gehört die biographische Forschung bis heute zu den methodischen Grundforderungen baugeschichtlichen Arbeitens.

Machen wir aus den Anfängen der baugeschichtlichen Forschung zur Zeit der Renaissance einen großen Sprung in das absolutistische 18. Jahrhundert. 1721 erschien in Wien der „Entwurff Einer Historischen Architectur. In Abbildungen unterschiedener berühmten Gebäude, des Alterthums und fremder Völker“, der auf großen Foliotafeln in Querformat und versehen mit Beschreibungen in deutscher und französischer Sprache zahlreiche Bauwerke nicht nur der griechischen und römischen Antike, sondern auch der „alten Jüden, Egyptier, Syrer, Perser, …, Araber und Türcken“, ja selbst „Sienesische und Japonische Gebäude“ enthielt, daneben aber auch eine Ansicht z. B. der prähistorischen Megalithanlage von Stonehenge. „Alles mit großer Mühe gezeichnet und auf eigene Unkosten herausgegeben von Seiner Kaiserlichen Majestät Ober-Bauinspector“ Johann Bernhard Fischer von Erlach, einem der großen Barockbaumeister seiner Zeit. Erstaunlich erscheint in dieser ersten Weltbaugeschichte, daß nicht mehr die antike Baukunst normativ im Zentrum steht, vielmehr die verschiedensten Kulturen und Epochen der Erde fast gleichwertig zur Darstellung kommen. Bewußtes Ziel des Verfassers war, wie seine Vorrede erweist, „den Geschmack der Landes-Arten, (welcher, wie in den Speisen, also auch zu reden in Trachten, und im Bauen ungleich ist)“, einandergegenüberzustellen, da man „einem jeden Volke sein Gutdunken so wenig abstreiten kan, als den Geschmack“. Die Voraussetzungen zu dieser neuen, kulturvergleichenden Betrachtung lagen in den Entdeckungsreisen und der mit ihnen verbundenen Begegnung und direkten Anschauung unterschiedlichster fremder Völker und Staaten.

Der „Entwurff Einer Historischen Architectur“ war als Zeitvertreib eines Architekten entstanden, der wegen Kriegszeiten vorübergehend unbeschäftigt bleiben mußte. Sein gesamtes Leben dagegen setzte in die Erforschung der Kunstgeschichte Johann Joachim Winckelmann (auf das ck in seinem Namen legte er großen Wert). Bis heute gilt er als „der Begründer der Kunstwissenschaft“. Die bisher genannten Autoren und Forscher waren Architekten. Winckelmann dagegen hatte zunächst Theologie, dann Physik, Medizin und Anatomie studiert. Die künftige Trennung der beiden Wissenschaftsdisziplinen „Baugeschichte“, von Architekten betrieben, und „Kunstgeschichte“, eher geisteswissenschaftlich orientiert, begann sich abzuzeichnen. Berühmt wurde Winckelmann durch seine beiden Schriften „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ (1755) und die „Geschichte der Kunst des Altertums“ (1764). In beiden Werken tritt die historische Architektur nicht auf. Dennoch sind sie auch für die Baugeschichte epochemachend geworden, und zwar wegen ihrer Methode. Kunst bedeutet in ihnen nicht mehr die Einhaltung bestimmter ästhetischer Normen und ist nicht mehr das individuelle Werk ausschließlich eines Einzelnen, sondern etwas historisch Vielschichtiges. Winckelmann definierte nicht nur die Stile von Künstlern, sondern auch von Völkern und Zeiten, und suchte diese aus vielfältigen Voraussetzungen zu erklären, darunter aus dem Klima eines Landes, dessen politischer Regierungsform und der Funktion der Künste innerhalb der Gesellschaft. Der Begriff des Volkes, schon bei Fischer von Erlach greifbar, erfuhr nun seine genauere Bestimmung. Nicht minder folgenreich war die Darstellungsform Winckelmanns. Mit ihr trat neben die abbildende Zeichnung und den Plan des Architekten sehr bewußt eingesetzt die nicht allein beschreibende, vielmehr durch die Beschreibung zugleich analysierende und interpretierende Sprache. Pläne und Zeichnungen von Architektur sind für die meisten Menschen in der Regel ebenso hermetisch unzugänglich wie das darin vermittelte Bauwerk. Seit Winckelmann wurde es möglich, auch bauliche Form in ihren geschichtlichen Bedingungen jedem größeren Kreis von Menschen zugänglich zu machen, der nur im Medium der Sprache zu denken gewohnt ist; bis auf den heutigen Tag wird unter Bildung ja vorwiegend literarisch vermittelte Bildung verstanden. Die Arbeiten Winckelmanns beschränkten sich weitgehend auf Plastik und Malerei. Den methodischen Ansatz, sprachliche Interpretation auf historische Architektur anzuwenden, blieb keinem Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe vorbehalten, dessen schöpferischer Anteil an diesem Vorgang, von seiner Beschreibung des Straßburger Münsters 1772 bis hin zu den Architekturbeschreibungen seiner „Italienischen Reise“, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Trotz Fischer von Erlachs Versuch blieb das Hauptthema der historischen Architekturbetrachtung bis in die Goethezeit die Baukunst der Griechen und Römer. Es war das Selbstverständnis von Realismus und Materialismus des 19. Jahrhunderts, das endlich auch vor der nur noch literarisch überlieferten Architektur mythischer Vorzeit, selbst vor der Grundlage des Christentums, der Bibel, nicht haltmachte, um noch dort nach einem realen historischen Kern zu suchen. David Friedrich Strauß‘ „Leben Jesu“ (1835) und Ludwig Feuerbachs Schriften bilden den geistigen Hintergrund zu jenen Entdeckungen, die mit dem Namen Heinrich Schliemanns verbunden sind. Schliemann war im Zuge einer nicht minder für das 19. Jahrhundert typischen Karriere aus einfachen Verhältnissen zum reichen Großkaufmann aufgestiegen, der sich 1868 schließlich seinen Jugendtraum wahrzumachen glaubte: Das Troja Homers zu finden und auszugraben, und der damit, übrigens durchaus nicht zu Recht, im allgemeinen Bewußtsein der Gebildeten als Begründer der Methode archäologischer Bauforschung steht. Es folgten seine Ausgrabungen in Tiryns und Mykenai. Seit 1900 legte Arthur Evans den Palast von Knossos auf Kreta frei. Bereits ein Jahr zuvor hatte Robert Koldewey in Babylon zu graben und neue Maßstäbe für das zeichnerisch forschende Erfassen von Bauwerken zu setzen begonnen.

Dennoch gilt klar zu sehen: Heinrich Schliemann hat das Troja Homers und das Mykenai der Orestie eines Aischylos nicht gefunden, Robert Koldewey nicht das Babel des Alten Testaments und jenen babylonischen Turm, von dem dort als Symbol menschlicher Hybris erzählt wird. Sie hatten vielmehr das Tor in eine bis dahin unbekannte, noch dunkle Vergangenheit aufgestoßen, deren Geschichte erst zu schreiben war – eine Geschichte aber, die zu schreiben bisweilen nur aus dem baulichen Befund möglich ist. Die archäologische Bauforschung hat damit an der Wende zum 20. Jahrhundert endgültig deutlich gemacht, daß Baugeschichte nicht nur die Aufgabe hat, historische Architektur in eine wie immer geartete Geschichte einzuordnen und aus dieser heraus zu erklären, sondern daß sie es im besten Sinne mit Objekten zu tun hat, die selber Geschichte darstellen. An einem Beispiel sei dies abschließend erläutert.

Die Schlösser des 17. und 18. Jahrhunderts in Frankreich stellen eine Architektur dar, zu der ebenso wie zu ihrer Entstehungsepoche eine Fülle an Quellenmaterial überliefert ist. Bauakten, Baupläne, Architekturzeichnungen, Stiche, theoretische Architekturtraktate, dazu Urkunden und Akten in den verschiedensten Archiven, endlich eine große Zahl zeitgenössischer Berichte und Darstellungen in Briefen und in der Literatur ermöglichen es, ein umfassendes Bild der Gesamtepoche jener Schlösser zu zeichnen. Dieses Bild wird bestimmt durch die Wirtschaftsform des Merkantilismus und den daraus ableitbaren Anfängen des Kolonialismus, durch einen starren Ständestaat mit einem wirtschaftlich bedeutenden, aber politisch machtlosen Bürgertum, und durch den Absolutismus eines Königs, der durch sein Handeln den Staat allein in seiner Person repräsentiert sah. Das Parlament war weitgehend eingeschränkt, der einst mächtige Adel in einen ganz vom König abhängigen Hofadel verwandelt.

Es macht keine Schwierigkeit, alle diese Kennzeichen im gleichzeitigen Schloßbau wiederzufinden. Die Lage von Versailles, als Zentrum des Königreichs und Hoflager des Adels, abseits von Paris als Ort der Bürger, bildet scheinbar genau die gesellschaftliche Situation des Absolutismus ab. Die Lage des Schlosses im Zentrum eines weit in die Landschaft hinausgreifenden Systems schnurgerader Kanäle, Alleen und anderer Achsen spiegelt scheinbar die Planmäßigkeit der wirtschaftlichen Erschließung Frankreichs. Und in der hochgelegenen Belétage hatte im Zentrum des Schlosses der König sein Schlafzimmer, in dem allmorgendlich das Lever du Roi stattfand, der König mit seinem Aufstehen – vergleichbar dem Aufgehen der Sonne – seine Staatsgeschäfte aufnahm. All diese Beziehungen scheinen durch eine Überfülle an Quellen abgesichert und daher gleichsam wissenschaftlich exakt nachweisbar. Wo aber etwas allzu einfach aufgeht, ist Skepsis angebracht. Wenden wir uns daher trotz der scheinbar guten Quellenlage nochmals dem Quellenproblem zu und überlegen uns, was wir in der knappen Beschreibung zuvor getan haben.

Wir hatten uns zunächst von den Historikern ein Bild zeichnen lassen, das zwar streng aus den schriftlichen Überresten entwickelt ist, jedoch einen geschichtlichen Zustand darstellt, der als solcher in seiner Gesamtheit nicht mehr existent ist. Verglichen hatten wir dieses rekonstruierte Bild mit einer noch aus jener Epoche vorhandenen baulichen Realität, der von Versailles, und in ihr Züge wiedergefunden, die der geschichtlichen Situation der Entstehungszeit jener Anlagen entspricht. Genau genommen hatten wir also ein in Masse und Anspruch monumentales Stück originaler Geschichtsrealität lediglich aus einem erst nachträglich gewonnenen und daher fiktiven Geschichtsbild heraus interpretiert. Es stellt sich die Frage, ob nicht umgekehrt die heute noch existente bauliche Realität des geschichtlichen Versailles die primäre Quelle sein müßte, allein aus deren Analyse heraus zunächst Schlüsse auf die Gestalt bestimmter historischer Phänomene zu ziehen wären. Es wäre dies der im engeren Sinne bauhistorische Weg des Umgangs mit den Quellen.

Erstaunlicherweise ist diesen Weg ein berühmter Soziologe gegangen. Norbert Elias hat in seinem großen Werk „Die höfische Gesellschaft“, Anfang der dreißiger Jahre als Habilitationsschrift entstanden, eine umfassend ausgreifende und immer noch gültige Gesamtdarstellung der Epoche des französischen Absolutismus geschaffen. Seine Darstellung geht nicht von der schriftlichen Überlieferung aus, sondern setzt an den Anfang die Architektur. Sein erstes analytisches Kapitel nennt Elias „Wohnstruktur als Anzeiger gesellschaftlicher Strukturen“ und stellt darin fest: „Nicht alle sozialen Einheiten und lntegrationsformen der Menschen sind zugleich Wohn- oder Behausungseinheiten. Aber sie alle sind durch bestimmte Typen der Raumgestaltung charakterisierbar.“ In diesem Sinne biete „die Wohnweise der höfischen Menschen einen sicheren und höchst anschaulichen Zugang zum Verständnis bestimmter gesellschaftlicher Beziehungen, die für die höfische Gesellschaft charakteristisch sind.“ Weiter schreibt Elias: „Man kann das Schloß von Versailles, das eigentliche Gehäuse des französischen Hofes als Wohnsitz des höfischen Adels und auch des Königs, nicht für sich allein betrachten und verstehen. Es bildet sich das Spitzenphänomen einer in allen ihren Äußerungen hierarchisch gegliederten Gesellschaft.“ Seine daher folgenden, ausführlichen Analysen der französischen Hôtels und Palais – ausschließlich bauliche Analysen! – seien hier nicht weiter vorgestellt, da es mir nur darum ging, ein methodisches Prinzip aufzuzeigen.

Es bedarf bisweilen des Anstoßes eines Außenstehenden, um den Fachmann auf den Wesenskern seiner Arbeit zu stoßen. So ist es der Soziologe Norbert Elias, der dem Bauhistoriker die Augen dafür zu öffnen vermag, daß historische Architektur nicht durch die geschichtliche Epoche ihrer Entstehungszeit total vordeterminiert ist, vielmehr die Beziehung zwischen Menschen – ihre Geschichte – sich immer auch in räumlichen Kategorien erfüllt und damit in Bauwerken über die Zeiten hinweg dauerhafte Gestalt gewinnt. In ihrer Dauerhaftigkeit geben Gebäude oder ganze Stadtgrundrisse den räumlichen Rahmen für weiteres menschliches Handeln und determinieren darin ihrerseits neu entstehende Geschichte, indem sie deren Spielraum abstecken.

Die barocken Schlösser des Absolutismus lehren, daß die Hauptaufgabe der Baugeschichte darin liegt, immer zuerst die Bauwerke selbst als Quelle zu erschließen. In ihnen hat menschliche Geschichte auf eine Weise dauerhafte Gestalt gewonnen, wie dies in keiner anderen Überlieferung der Fall ist.

Literatur

Einen guten Einblick in die vielfältigen Methoden baugeschichtlichen Forschens gibt regelmäßig die Zeitschrift architectura. Zeitschrift für Geschichte der Baukunst, 1, 1970ff.

Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie (Soziologische Texte, Bd. 54). Neuwied und Berlin 1969
in: Baugeschichte und europäische Kultur 1 (Forschung und Information, Bd. 37). Berlin 1985, S. 9-18

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