Armin von Gerkan: Die gegenwärtige Lage der archäologischen Bauforschung in Deutschland

Titelseite Zentralblatt der Bauverwaltung, 44. Jahrgang, Nr. 44, 29. Oktober 1924

Wenn heute jemand versuchen wollte, ein Kulturbild des deutschen Mittelalters zu entwerfen, aber dabei die Baudenkmäler jener Zeit, die Kirchen, Rathäuser, Bürgerhäuser, Burgen und Befestigungen, als minder wichtiges und deshalb entbehrliches Material außer acht lassen wollte, dann würde man mit Recht darüber den Kopf schütteln. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, daß auf jenem Forschungsgebiet in dieser Beziehung alles in Ordnung wäre: allein die Bauten stehen in reicher Fülle und in erreichbarer Nähe vor unseren Augen; ihre Verwertung ist auch dem Kunsthistoriker ohne weiteres in dem Grade möglich, wie es ihm seine Vorbildung gestattet. Das Beispiel soll uns aber in Erinnerung bringen, ein wie großer Teil der Lebensäußerungen eines Volkes in seinen Bauten zum Ausdruck kommt: ohne Zweifel in (!) weit größerer, als etwa in der Keramik, in der Malerei oder in irgend einem anderen Zweige der künstlerischen Tätigkeit. Die Baukunst ist zu allen Zeiten als mindestens gleichwertiges Gebiet neben der Malerei und der Plastik anerkannt worden, sie trägt aber daneben auch alle Züge des Kunstgewerbes, da es sich bei ihr um Aufgaben handelt, welche praktischen Zwecken dienen sollen. Mehr noch, diese Aufgaben hängen aufs engste mit dem geistigen, politischen und wirtschaftlichen Leben des Volkes zusammen und können bei sachgemäßer Untersuchung der Baureste zum Ausgangspunkt für die Auffindung wichtiger Tatsachen werden, deren Spuren sonst untergegangen sind.

Die archäologische Betrachtungsweise berücksichtigt die Bauten, je nach Spezialität des Forschers, immer nur von einseitigen Gesichtspunkten: als Träger von figürlichem Schmuck, der das Hauptaugenmerk auf sich zieht; als Spielplatz für Dramen, dessen Ausgestaltung nicht dem Gebäude selbst entnommen wird, sondern aus den Texten der Dramen und der sonstigen Ueberlieferung; als bloße Illustration zur überlieferten Wohnkultur, da der Forscher selbst meistens nicht imstande ist, sich eine Vorstellung von einer Wohnung zu machen, die er beziehen soll, wenn ihm nur der Grundriß vorliegt; endlich gibt es eine kleine Gruppe von Archäologen, welche für sich die Autorität der Architekturforschung in Anspruch nehmen, dabei aber nur künstlerische Motive berücksichtigen, wie die ornamentale Dekoration oder die Raumgestaltung, losgelöst von aller Erdenschwere. Außerordentlich selten sind Persönlichkeiten, die bemüht sind, die Gebäude im ganzen zu verstehen und vorhandene Lücken durch sachgemäß Ergänzungen zu schließen, nicht bloß in Worten, sondern sogar auf dem Papier – für eine ernsthafte Bauforschung allerdings ein selbstverständliches Verfahren. Doch auch diese Ausnahmeerscheinungen verfügen als Grundlage nur über eine gewissen Anzahl von Beispielen anderer antiker Bauten, während die Erfahrung nur dann nutzbringend ist, wenn sie sich auf einer gründlichen Fachausbildung aufbaut. Diese allein ermöglicht das volle Verständnis der verwandten Vorgänge im Altertum, sie ist aber weder eine Geheimwissenschaft noch eine Gemütsangelegenheit, sondern wird heute gerade so, wie im Altertum, durch Schulung im Baufach erworben.

Die notorische Ratlosigkeit unserer Archäologie gegenüber den Bauresten hat aber noch andere Ursachen: die Reste selbst sind in einem Zustande auf uns gekommen, der in der Regel ein unmittelbares Betrachten gar nicht gestattet. Sie müssen erst sachkundig gedeutet, aufgenommen und zeichnerisch dargestellt werden – daß dabei auch unvollständige Fundamente überraschend vollständige Auskünfte geben können, hat der Verfasser mehr als einmal erfahren -; sie müssen aber auch schon in diesem Stadium der Bearbeitung zeitlich richtig eingeordnet werden, nach Anhaltspunkten, die unmittelbar aus der künstlerischen und technischen Entwicklung des Bauwesens im Altertum hervorgehen. Während sie sich die „wissenschaftliche“ Verwertung der Baudenkmäler selbst vorbehält, bezeichnet die Archäologie dies alles als Vorarbeit. Zugleich wird sie als Pflicht des Architekten erklärt. Wir wollen das gerne gelten lassen, aber mit wesentlichen Abänderungen: es ist nicht die Aufgabe des Architekten, sondern des Bauforschers, der eine selbständige wissenschaftliche Disziplin vertritt, welche nicht erst verwertet werden muß, sondern ebenso ihrerseits andere Zweige der Forschung als Hilfswissenschaft verwertet, und ferner sind Pflichten stets mit Rechten verbunden.

Der Architektenberuf erfordert Hochschulbildung; aber er ist praktischer Art, daher ist die Ausbildung durchaus auf die Bedürfnisse der Gegenwart eingestellt. Sie soll allseitig sein und umfaßt folglich auch die Geschichte der Baukunst. Aber auch ein Offizier, der die Generalstabsakademie besucht, wird dadurch noch lange nicht zum Kriegshistoriker. Während für ihn die Kriegsereignisse der letzten Jahrhunderte am wichtigsten sind und die Kriegsgeschichte des Altertums im wesentlichen nur Bildungswert hat, bedeutet für den Architekten die Baukunst des Altertums weit mehr, weil sie bereits diejenigen Formen in Vollendung geschaffen hat, die heute noch die Grundlage der Architektursprache bilden. Aber das sind doch nur Kunstformen, die auch dem Archäologen geläufig sein können: für das Studium der Einzelheiten in ihrer Entwicklung fehlt auch an den Hochschulen die Zeit, ganz zu schweigen von den Bautypen in ihrem Verhältnis zur antiken Kultur oder gar von den Problemen, welche der Erhaltungszustand einzelner Gebäude mit sich bringt und von den Methoden der Wiederherstellung. Auch ist die Bau- und Formengeschichte nicht der Zweck des Studiums, denn sie spielt im Architektenberuf etwa dieselbe Rolle, wie im Leben der gebildeten Menschen die Weltgeschichte, deren allgemeine Kenntnis ihm die Schule vermittelt.

Will der Architekt aber Bauforscher werden, so muß er sich Kenntnisse aneignen, zu denen das wenige Baugeschichtliche, das ihm das Studium bieten konnte, lediglich den Anfang erleichtert, so daß er seinen ersten Schritte eine bewußte Richtung zu geben vermag. Ist doch das Baufach ebensowenig ein gelehrter Beruf, wie das praktische höhere Lehrfach, obwohl dessen Vertreter an der Universität wissenschaftlich ausgebildet werden. Trotzdem müssen diejenigen von ihnen, die wissenschaftlich arbeiten wollen, sich weiter bilden; sie finden aber auch an der Universität dafür wohl ausgestattete Institute, die eigens dafür geschaffen sind. Der werdende Bauforscher ist mangels einer entsprechenden Organisation auf das Selbststudium angewiesen, sowie auf den Gedankenaustausch mit älteren Fachgenossen: gewiß nicht die schlechteste Methode, die an die Traditionen der Vergangenheit erinnert, als die großen Meister sich ihren Nachwuchs selbst heranzogen. Die Arbeit bringt es mit sich, daß er sich bei ernsthafter Beschäftigung auch auf den Nachbargebieten Kenntnisse aneignet, die mindestens dem gleichwertig sind, was ein Archäologe ohne fachliche Bildung von der Bautechnik wissen kann. – Die wirklichen Grundlagen, welche ein Architekt zur Forschertätigkeit mit sich bringt, sind jedoch nicht die spärlichen geschichtlichen Vorstudien, sondern die Gewöhnung an technische Vorgänge und ihre richtige Beurteilung, die Vertrautheit mit Material und Konstruktion, das kontrollierbare Gefühl für statische Verhältnisse und das Verständnis für handwerkliche Gepflogenheit auch in vergangenen Zeitperioden. Alles dies bewahrt ihn von den weit verbreiteten laienhaften Vorstellungen, daß es höchst gleichgültig sei, auf welche geheimnisvolle Weise die Bauten des Altertums zustande gekommen seien, oder daß dieser Vorgang mit einem simplen Aufeinanderhäufen von Baumaterial erschöpft wäre.

Es gibt in Deutschland viele Tausende von Philologen und Archäologen, von denen weit über hundert an Universitäten, Museen und Instituten fundierte Stellungen einnehmen, welche ihnen neben den Lehr- und Verwaltungsaufgaben eine wissenschaftliche Forschertätigkeit zur Pflicht machen. Es gibt auch mehrere Tausend Architekten, aber keine dauernde Stellung für einen Bauforscher. Vor dem Kriege war Deutschland ein blühendes Land, in dem jeder tüchtige Mensch Aussicht hatte, sein Auskommen zu finden. Daher war es verständlich, wenn unter den vielen Architekten einige einem ideal gerichteten Interesse nachgaben und sich die Erforschung der antiken Baudenkmäler angelegen sein ließen. Sie mußten dabei mancherlei Opfer bringen: einzelnen gestatteten das ihre Vermögensverhältnisse, andere opferten bewußt eine Reihe von Jahren, die sie verloren hatten, wenn sie sich später einer anderen Berufstätigkeit zuwandten, manche aber blieben hartnäckig bei dem wissenschaftlichen Luxusberuf, in der Anschauung, daß ihre erfolgreiche Tätigkeit auch ihre Existenz in irgendeiner Weise sicher stellen würde. In ganz vereinzelten Fällen kamen sie auch zu Stellungen von dauernder Art, die jedoch nicht etwas für Bauforscher geschaffen wurden, sondern sonst für Archäologen bestimmt und nur ausnahmsweise einem Architekten überlassen waren, was dann auch immer zu mancherlei Unzuträglichkeiten führte. Die Regel aber war, daß eine wissenschaftliche Unternehmung größeren Stiles, die einen oder mehrere Architekten nötig hatte, diese ohne weitere Verbindlichkeit für die Zeit ihrer Mitarbeit entschädigte, soweit es sich nicht auch hier etwa um eine freiwillige Tätigkeit handelte. Dabei trat dann oft genug der Fall ein, daß der Bauforscher mit einer Menge wissenschaftlichen Materials heimkehrte und dieses dann neben seiner praktischen Berufstätigkeit jahrelang und ohne Entschädigung aufarbeitete; vieles ist dabei auch für die Wissenschaft verlorengegangen, wenn die Umstände ihm solch eine Nebenarbeit nicht gestatteten. Der selbstverständlichen Voraussetzung, daß eine beanspruchte Einzelleistung zu honorieren ist, wird auf diese Weise kaum entsprochen und niemand, der geklärte wirtschaftliche Ansichten hat, wird darin eine besondere Förderung der Forschertätigkeit erblicken. Es gab kein gesichertes Betätigungsfeld für Bauforscher, sondern ihre Wirksamkeit beruhte, genau wie in freien Berufen, lediglich auf privaten Werkverträgen und Aufträgen, auch wenn es sich um Arbeiten von jahrzehntelanger Dauer handelte: manche solcher großen Unternehmungen sind infolge des Krieges zusammengebrochen und ihre Mitarbeiter blieben ihrem Schicksal überlassen.

Wir sehen das merkwürdige Bild, daß ein bedeutendes und nach seiner Wichtigkeit in erster Reihe stehendes Gebiet der Altertumskunde, welches nach der immer mehr anwachsenden Zahl der Denkmäler an Umfang sogar das größte ist, von der Archäologie nur soweit berücksichtigt wird, als es ihre dafür unzureichende Ausbildung gestattet. Es gibt allerdings in der Altertumskunde noch mehrere Zweige, die aus demselben Grunde nicht systematisch bearbeitet werden (Medizin, Mathematik, Seewesen, Bergbau usw.), aber für die Baukunst hätten wir genügend Kräfte, welche in freiwilliger Arbeit die Arbeit in beachtenswertem Grade gefördert haben. Eine Organisation der Forschung wäre leicht zu schaffen gewesen. Hier stellen sich jedoch Hindernisse in den Weg, die schlechterdings nicht anders als psychologisch zu erklären sind, etwa durch das Vorurteil, daß die Universitas die Gesamtheit dessen vermittelt, was als Wissenschaft zu gelten hat, so daß die Bauforscher darüber hinaus nur über Kenntnisse von untergeordneter Art verfügen können, die ihrer Tätigkeit den Stempel einer vorbereitenden Hilfsarbeit aufdrücken. Es ist eine gewöhnliche Erscheinung, daß ein Bauforscher, der selbständig arbeitet und zu allgemeinen Streitfragen Stellung nehmen muß, von dem einen Teil der Altertumsforscher eine scharfe, ja verletzende Zurückweisung erfährt, während der andere gern vermeidet, für ihn einzutreten. – Es ist nicht ganz aufrichtig, wenn man die unverkennbaren Mängel der Bauforschung nicht auf ihre wahren Ursachen zurückführt, sondern sie einseitig den Architekten zur Last legt: man nimmt, ohne die Verhältnisse kennen zu wollen, eine geordnete Arbeitsteilung an und setzt eine Organisation der Forschung an den Hochschulen voraus, die jedoch, wie wir sahen, ganz andere Aufgaben haben. Daran ist nur das eine richtig, daß die bestehenden Organisationen der Altertumsforschung nicht die Absicht haben, dies Gebiet anders als bisher zu fördern, nämlich nur durch Sonderaufträge. Die öffentliche Meinung aber macht keinen Unterschied zwischen Archäologie und Bauforschung, sie verknüpft mit dem Altertum sogar in erster Linie die Vorstellung von den Akropolisbauten Athens oder vom römischen Forum und bezeichnet die Bauforscher kurzerhand als Archäologen. Darum fließen die öffentlichen und privaten Zuwendungen lediglich den archäologischen Institutionen zu, denen damit auch die Bauforschung zu treuen Händen anvertraut ist, aber schwerlich machen Steuerzahler und Spender sich eine klare Vorstellung davon, daß gerade dieser Teil stiefmütterlich bedacht wird, während z. B. der Anteil an Barmitteln, besonders aber an Arbeitskraft von berufsmäßigen Forschern, der auf die Vasenkunde entfällt, unvergleichlich höher ist. Natürlich wird auch nur einseitig für den Nachwuchs von Archäologen durch Stipendien und Stellenbesetzung gesorgt, die Ergänzung der Bauforscher dagegen dem Zufall überlassen, mit der Folge, daß die Kräfte systemlos verzettelt werden und die Aufgaben nicht bewältigt werden können. Das wird so lange bleiben, als die notwendigen Mittel dafür grundsätzlich vorenthalten werden.

Die Gerechtigkeit erfordert die Feststellung, daß diese Organisationsmängel nicht allein auf Deutschland beschränkt, sondern international sind. Aber sie erfordert auch das Eingeständnis, daß auch andere Länder Archäologen haben, die sich unsern an die Seite stellen dürfen. Es fehlte ihnen aber an der großen Zahl von Bauforschern, die aus idealen Beweggründen freiwillig zu entsagungsvoller Arbeit in die Bresche traten. Dergleichen ist nur aus deutscher Lebensauffassung zu verstehen und gereicht Deutschland zum Ruhm. Vor allen gehört Wilh. Dörpfeld, der seit fast fünfzig Jahren an ihrer Spitze steht, zu jenen großen und seltenen Persönlichkeiten, welche nur einmal in Jahrhunderten auftreten und eine Epoche begründen. Ihm ist es zu verdanken, wenn das deutsche Institut in Athen als Mittelpunkt der Bauforschung eine Sonderstellung einnahm, und wenn die Leiter fremder Ausgrabungen hier um Rat und Hilfe fragten, in der selbstverständlichen Annahme, daß hier der gegebene Ort dafür wäre. Wir würden Dörpfelds Bedeutung nicht gerecht werden, wenn wir ihm allein die Entwicklung der Bauforschung zuschrieben; die Zeit drängte danach, und das Ziel wäre in langsamer und mühevoller Arbeit, auch in anderer Zeitfolge, allmählich erreicht worden, aber es gehört zu den glücklichsten Ereignissen, daß zur rechten Zeit auch der führende Mann am Platze war.

Fragen wir uns nun, wie der Krieg und seine Folgen auf diese Verhältnisse gewirkt haben. Der Architektenstand ist heute ganz besonders gefährdet; seine Vertreter müssen mit allen Kräften um ihre Existenz ringen, von Muße und Mitteln für Liebhabereien ist keine Rede mehr. In Deutschland leben heute kaum zwanzig Bauforscher aus der Vorkriegszeit, denn nicht jeder Architekt, der einmal eine Reise zu den Stätten der klassischen Baukunst gemacht und sich vielleicht auch an einigen Arbeiten beteiligt hat, ist zu ihnen zu zählen. Von ihnen hat ein Teil sich der Erwerbstätigkeit zuwenden müssen und bekleidet im vorgerückten Alter recht bescheidene Posten, und manche sehen als Ertrag eines langen und arbeitsreichen Lebens nur ein kümmerliches Dasein vor sich. Ein anderer Teil übt den akademischen Lehrberuf aus und scheidet daher für die aktive Tätigkeit und Aufrechterhaltung der Tradition aus. Nur ganz vereinzelte kamen dafür noch in Betracht, unter ihnen Dörpfeld, der als erster wieder den klassischen Boden betrat und mit jugendlicher Frische und unermüdlicher Kraft die Arbeit wieder aufgenommen hat: allein bei seiner überragenden Stellung hat er die Pflicht, seine Zeit nicht zur Information der Wissenschaft über laufende Ereignisse zu verschwenden, weil dazu sonst keine Anstrengungen gemacht werden, sondern zur Erledigung seiner selbstgestellten Aufgaben, die für Freunde und Gegner gleich wichtig sein wird. Den anderen fehlt angesichts der Erfahrungen und der Beispiele der Wagemut, sich einer kaum ungewissen Zukunft anzuvertrauen und zugleich die letze Gelegenheit zu versäumen, sich eine unabhängige Existenz zu sichern. Denn noch hat die Stellung der Forschungsinstitute zu ihnen sich keineswegs geändert, und die Verkürzung der Mittel vermindert in erster Linie ihre Aussichten. Es heißt z. B., in Athen sei ein Architekt heute entbehrlich, weil wir dort jetzt keine größeren Ausgrabungen mehr unternehmen können, und diese Meinung drückt die herrschende Auffassung unzweideutig aus: nur für den Hilfsdienst in besonderen Fällen werden sie anerkannt, nicht aber als Vertreter eines gleichwertigen Forschungsgebiets, an dem auch ohne Grabung ununterbrochen weitergearbeitet werden muß. Daß dabei die kleinen, aber ergebnisreichen Unternehmungen des Instituts in Athen, in Olympia und auf Naxos zum beträchtlichen Teil ungenützt bleiben, ist selbstverständlich, und das Institut hat auch bereits seine führende Stellung für die griechische Baukunst eingebüßt und kampflos den Amerikanern überlassen müssen.

Denn die Tradition ist bereits abgerissen, der Nachwuchs seit einem Jahrzehnt ausgeblieben, die wenigen vorhandenen Kräfte reichen kaum aus, um älteres Material aufzuarbeiten. Wer, wie der Verfasser, schon öfter in die Lage gekommen ist, die Fortführung fremder, jahrelang liegengebliebener Arbeiten, deren ursprüngliche Mitarbeiter längst ausgeschieden sind, ablehnen zu müssen, ohne imstande zu sein, einen Ersatz zu empfehlen, weiß, daß es sich nicht mehr um einzelne Fälle handelt, sondern um symptomatische Erscheinungen, welche das Aufhören unserer Bauforschung begleiten. Wir werden aber auch nicht die Verantwortung übernehmen können, junge Kräfte zu dieser Arbeit zu ermutigen, da wir ehrlich gestehen müssen, daß diese Tätigkeit keine Aussicht bietet, zu einer befriedigenden und geachteten Stellung zu gelangen. Wenn von archäologischer Seite darauf hingewiesen wird, daß ihnen ja der akademische Lehrberuf an den Hochschulen offen steht, so werden damit Stellungen angeboten, auf deren Besetzung man keinen Einfluß hat und über deren Bedürfnisse man nicht im klaren ist. Diese Lehrstühle sind weder zahlreich, noch werden sie allein für abgedankte Bauforscher offen gehalten: sie umfassen immer auch noch andere Zeitperioden, die ebenfalls Kandidaten stellen, und zu ihnen gesellen sich weitere, die durch ihre praktische und künstlerische Tätigkeit qualifiziert werden. Eine langjährige Forschertätigkeit vergrößert allerdings die Eignung des Bewerbers, ist aber durchaus nicht Vorbedingung. Solange die einzige Forderung nicht erfüllt ist, daß diese Forschertätigkeit selbst zum Beruf ausgestaltet wird, ist an eine Gesundung der Verhältnisse nicht zu denken, ja es ist nicht einmal zu wünschen, daß die alten Zuständen wiederhergestellt werden, bei denen die Bauforschung entweder vorübergehenden Dilettanten anvertraut wird, oder aber ihre ernsthaften Vertreter auf ein totes Gleis führt.

Damit kommt die Bauforschung zum Stillstand; sie wird sich nur noch auf die Betrachtung des bekannten Materials beschränken müssen. Wenn über Jahr und Tag wieder Ausgrabungen unternommen werden, dann wird man tatsächlich auf ungeschulte Kräfte angewiesen sein. Lauter denn je werden die Klagen über die Unfähigkeit der Architekten erschallen, aber sie werden ebenso unberechtigt sein, wie zuvor: fällt es doch keiner archäologischen Behörde ein, die kunstgeschichtliche Forschung auch Bildhauern, Malern, Goldschmieden und Töpfern anzuvertrauen. Vielleicht wird die Not eine grundlegende Änderung der Beziehungen erzwingen, und es wäre kein zu hoher Preis dafür, wenn darüber einige der laufenden Arbeiten unvollendet blieben: es gehen ja infolge der Fehler unserer Forschungsweise beständig weit wichtigere Baudenkmäler zugrunde, ehe sie überhaupt ernsthafte Beachtung finden. Aber die Hoffnung auf eine rasche und reibungslose Erfüllung unseres Wunsches ist gering, denn es gilt das größte Hindernis zu bekämpfen, das allgemeine und durch materielle Interessen verstärkte Vorurteil einer großen und geschlossenen Organisation, die sich seit altersher zur Gewohnheit gemacht hat, hier eine willkürliche Unterscheidung von Schafen und Böcken vorzunehmen.

Nachtrag: Der obige Aufsatz ist seinerzeit aus der Lage der Dinge entstanden und wurde in Fachkreisen in recht zwiespältiger Weise aufgenommen. Er hat jedoch seine Wirkung voll erreicht, da die in ihm ausgeführten Bedenken heute nicht mehr aktuell sind, und hatte insofern sehr gute Folgen, als die Diskussion darüber zu der Gründung der Koldewey-Gesellschaft, der Fachvereinigung der Bauforscher, im Jahre 1926 geführt hat. Es mag noch bemerkt werden, daß durch ihn der Ausdruck ‚Bauforschung‘ zur Einführung gelangt ist.

in: Zentralblatt der Bauverwaltung, 44, 1924, Nr. 44 (29. Oktober 1924), S. 375ff. (dort ohne Nachtrag), sowie in: Armin von Gerkan: Von antiker Architektur und Topographie. Gesammelte Aufsätze (hrsg. von Erich Boehringer). Stuttgart 1959, S. 9-13.

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