Ulrike Wulf-Rheidt: Zur Lage der Bauforschung an den Universitäten in Deutschland

„Wir werden … nicht die Verantwortung übernehmen können, junge Kräfte zu dieser Arbeit (gemeint ist die Bauforschung, Verf.) zu ermutigen, da wir ehrlich gestehen müssen, daß diese Tätigkeit keine Aussicht bietet, zu einer befriedigenden und geachteten Stellung zu gelangen. Wenn von archäologischer Seite darauf hingewiesen wird, daß ihnen ja der akademische Lehrberuf an den Hochschulen offen steht, so werden damit Stellungen angeboten, auf deren Besetzung man keinen Einfluß hat und über deren Bedürfnisse man sich nicht im klaren ist. Diese Lehrstühle sind weder zahlreich, noch werden sie allein für abgedankte Bauforscher offen gehalten: sie umfassen immer auch noch andere Zeitperioden, die ebenfalls Kandidaten stellen“ (Anm. 1).

So charakterisierte 1914 Armin von Gerkan die gegenwärtige Lage der archäologischen Bauforschung in Deutschland, in einer Schrift, in der er vor allem die Etablierung der Bauforschung am Deutschen Archäologischen Institut forderte. Viel ist für die Bauforschung erreicht worden seitdem: So hat zum Beispiel der Aufruf auch 1926 zur Gründung der Koldewey-Gesellschaft geführt, im Jahre 1973 wurde an der Zentrale des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin das Architekturreferat etabliert, zahlreiche – allerdings nicht alle – seiner Auslandsabteilungen verfügen über eine oder mehrere Stellen für Bauforscher, die Abteilungen Istanbul und Rom werden zur Zeit sogar von Bauforschern geleitet.

Und es gibt an den Hochschulen auch nicht nur „abgedankte Bauforscher“, sondern auch solche, die beides, Bauforschung in Praxis und Lehre, meistern, ein Spagat, den von Gerkan nicht für möglich hielt, wenn er in derselben Schrift bemerkt: „…ein Teil (der Architekten) übt den akademischen Lehrberuf aus und scheidet daher für die aktive Tätigkeit und Aufrechterhaltung der Tradition aus.“

Trotz des Erreichten wird kaum einer bestreiten, dass 90 Jahre nach dem Aufruf von Armin von Gerkan sich das traditionsreiche Fach der Bauforschung in Deutschland wieder in der Krise befindet: Nur noch wenige Lehrstühle für Baugeschichte an deutschen Universitäten betreiben Bauforschung im Sinne von Gerkans. Die Assistentenstellen, auf denen der wissenschaftliche Nachwuchs sich qualifizieren und Erfahrungen in der Lehre gewinnen kann, werden immer weniger. Zahlreiche hochqualifizierte Bauforscher sind arbeitslos oder leben von Werkverträgen oder schlecht bezahlten Lehraufträgen und dies oftmals schon seit Jahren. Wir müssen uns also wieder fragen, ob wir dem akademischen Nachwuchs wirklich raten können, den Weg eines Bauforschers einzuschlagen.

Was ist ein Bauforscher? Der Begriff „Bauforschung“ wurde ebenfalls erst durch Armin von Gerkan in dem bereits zitierten Aufsatz eingeführt und hat sich seither für diese besondere Methode der architekturgeschichtlichen Forschung eingebürgert (Anm. 2). Die Bauforschung nutzt dabei das Bauwerk selbst als Quelle, das Geschichtsdokument ist also zuerst nur das Bauwerk mit all seinen Spuren. Allein das Bauwerk liefert durch seine Erforschung Erkenntnisse zu seiner inneren Ordnung, Konstruktion und Gestalt, seinen Entstehungsbedingungen und Veränderungen, die dann in ihrem historischen Zusammenhang interpretiert und bewertet werden. Grundlage ist die Bauaufnahme, das Vermessen und Zeichnen aller auch unbedeutend erscheinender Einzelheiten und deren Interpretation. Bauforschung und Bauaufnahme sind also untrennbar miteinander verbunden. Häufig ist auch der Begriff der „archäologischen Bauforschung“ zu finden, der seine Begründung sowohl im methodischen Ansatz der Bauforschung als auch in ihrem ersten breiten Betätigungsfeld hat. Daneben existiert auch der Begriff der „historischen Bauforschung“, mit dem ausgedrückt werden soll, daß die Erforschung von Bauwerken als historische Disziplin verstanden werden will.

Bauforschung in diesem Sinne wird systematisch seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert betrieben. Sie ist seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts auch an den Technischen Hochschulen beheimatet; so war Robert Koldewey ab 1923 auch Lehrer an der Technischen Hochschule Charlottenburg, und Karl Wulzinger übernahm bereits 1920 einen Lehrstuhl in Karlsruhe.

Die Anfänge der Bauforschung reichen jedoch in das 18. Jahrhundert zurück, als junge Architekten zur weiteren Ausbildung zu antiken Stätten – vornehmlich nach Rom, später dann auch nach Griechenland – reisten. Im Vordergrund bei der Beschäftigung mit historischer Architektur stand dabei der Wunsch, durch genaue Kenntnis architektonischer Ordnungen und Details eine sichere Grundlage für die eigene Arbeit als Architekt zu gewinnen. Historische Architektur sollte Vorbild für die Lösung neuer Bauaufgaben sein. Die Erforschung historischer Architektur und die Beschäftigung mit moderner Architektur waren deshalb lange Zeit untrennbar verbunden. Und obwohl bereits mit den ersten Vertretern der Bauforschung an den Technischen Hochschulen ein ganz anderer Anspruch an Bauforschung in der Architektenausbildung formuliert wurde, es nicht um den Vorbildcharakter historischer Architektur, sondern um ein Verständnis unserer gebauten Umwelt ging, haftet der Bauforschung der Geruch, Bauformenlehre zu betreiben, vielfach immer noch an. Bis heute sehen es deshalb viele Entwerfer als antiquiert und sogar hemmend und schädlich an, sich mit historischer Architektur zu beschäftigen, da diese keinen Vorbildcharakter für die moderne Architektur mehr haben könne und nur zu platten Anbiederungen an die Geschichte wie etwa der sogenannten Postmoderne führt. Dieses gebrochene Verhältnis zur Baugeschichte ist historisch begründet mit der radikalen Abwendung eines Teils der jungen Architektengeneration Anfang des 20. Jahrhunderts von den Gestaltungsvorstellungen des späten Historismus und dem Beginn der sogenannten modernen Architektur. Für viele scheint deshalb innerhalb der Architektenausbildung auch nur die Auseinandersetzung mit der Architektur des 20. Jahrhunderts sinnvoll, da sie hier die Wurzeln ihres Schaffens sehen. Dies führte und führt verstärkt dazu, daß viele Lehrstühle für Baugeschichte mit Kunsthistorikern oder Architekten besetzt wurden, die sich mit der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Wir sehen uns also wieder dem von von Gerkan beschriebenen Dilemma gegenüber, dass der wissenschaftliche Nachwuchs an den Universitäten kaum Chancen hat, genügend eigene Erfahrung in der Bauforschung zu erwerben, was zukünftig auch dazu führen könnte, daß nicht genug wissenschaftlicher Nachwuchs herangezogen wird. Und das Deutsche Archäologische Institut kann diese Lücke auch nicht schließen, da seine Aufgabe die Forschung und nicht die Ausbildung ist. Ganz im Gegenteil, das Deutsche Archäologische Institut müßte eigentlich an unserer Seite kämpfen, da es sonst um ausreichend qualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchs für seine Bauforscherstellen fürchten muß.

Was also tun, um diesem bedrohlichen Abbau von Bauforschung an den Universitäten entgegenzuwirken?

Wir sollten uns nicht weiter in unseren „Elfenbeinturm“ zurückziehen und die Diskussion nur mit Gleichgesinnten suchen. Mit der Einstellung, „Bauforschung ist wichtig, und wer dies nicht versteht, ist ignorant,“ werden wir auch noch die letzten Lehrstühle verlieren. Nur ein offensives, selbstbewußtes Vertreten unseres Ansatzes, unserer Ziele und der Bedeutung der historischen Bauforschung für die Architektenausbildung kann zu einem Umdenken führen. Wir müssen den Diskurs suchen und zwar nicht nur innerhalb unseres eigenen Faches; wir müssen vielmehr dort kämpfen, wo die „Gefahren“ lauern, also in den Fakultäten für Architektur, wo unsere traditionelle Heimat ist und wo sie auch bleiben soll. Wir müssen uns den Architekten, Städteplaneren und Bauingenieuren stellen, und dafür müssen wir auf unsere Kollegen zugehen, in dem wir Öffentlichkeitsarbeit vor allem in diesem Kreis betreiben und dort verstärkt für unser Fach werben. Das kann nicht mit einem Verweis auf unsere Forschungsleistungen und Fachpublikationen erfolgen, sondern wir müssen auch bemüht sein, in einer verständlichen Sprache und höchst anschaulich unsere Ergebnisse den Kollegen und Studierenden zu vermitteln. Mit unseren Grabungs- und Bauaufnahmeprojekten fällt dies in der Regel sogar relativ leicht, weil unseren Unternehmungen noch immer ein Hauch von „Abenteuer und Exotik“ anhängt. Wir können allerdings nicht darauf hoffen, daß uns die Universität Mittel für unsere Forschungen zur Verfügung stellt, sondern wir müssen versuchen, Drittmittel einzuwerben, dürfen uns dann aber auch nicht zu fein sein, diese Forschungsunternehmungen publikumswirksam zu verkaufen. In Zeiten harter Konkurrenz um immer weniger werdender Förderungsgelder ist dies allerdings kein leichtes Unterfangen. Das darf allerdings nicht dazu führen, dass wir als „Exoten“ angesehen werden, mit denen sich eine Fakultät schmückt – dafür sind die wirtschaftlichen Mittel zu knapp und der Druck auf Stellen zu groß, und die Universitäten werden sich immer weniger „Exoten“ leisten können.

Darüber hinaus müssen wir den lehrenden und den angehenden Architekten klarmachen, warum unsere Forschungsergebnisse auch für sie relevant sind. So wichtig die Einzelergebnisse unserer Forschungsarbeiten auch sein mögen, wir können unser Fach nur „gut verkaufen“, wenn wir den Architekten gegenüber einen generalistischen Ansatz verfolgen. Wir müssen klar machen, daß ohne eine Auseinandersetzung mit der Baugeschichte kein verantwortungsbewußtes Handeln möglich ist. Und ein Architekt muß verantwortungsvoll handeln, da er für Menschen plant und in immer höherem Maße in unsere Umwelt verändernd eingreift. Wie will ich verantwortungsvoll „Bauen im Bestand“ betreiben, wenn ich nicht die Methoden erlernt habe, meine gebaute Umwelt zu analysieren? Und diese Beschäftigung mit historischer Substanz geschieht eben nicht mit den eher kunstwissenschaftlichen Methoden der Architekturgeschichte, sondern in der praktischen Auseinandersetzung, dem Messen und Zeichnen und daraus sich entwickelnd dem Verstehen eines historischen Bauwerkes oder Baubefundes.

Unsere Lehrtätigkeit darf sich aber nicht auf die Methodenvermittlung beschränken, sondern wir müssen uns auch in die praktische Architekten- und Bauingenieursausbildung einmischen, konkret nicht nur die Bauaufnahmen eines umzubauenden Gebäudes erstellen oder einen historischen Stadtteil analysieren, in den eingegriffen werden soll, sondern dann auch den anschließenden Entwurf begleiten und uns an der Diskussion „wie plane ich im Bestand“ mit beteiligen.

Weiter müssen wir klar machen, daß wir auch für eine handlungsorientierte Ausbildung einen wichtigen Beitrag leisten können, in dem wir aus der Auseinandersetzung mit historischer Architektur gestaltungstheoretische Grundlagen herausfiltern. Durch die Analyse von historischen Bauwerken können Strategien des Entwerfens, Begriffe wie Schönheit, Harmonie, Proportion, Schlagwörter wie funktional, materialgerecht, organisch usw. untersucht werden, die für jeden Architekten wichtig sind und nicht jeden Tag neu erfunden werden. Schließlich ist selbst die sogenannte Moderne nicht so „vaterlos“, wie sie gerne dargestellt wird und kann mit denselben Methoden analysiert werden wie antike Architektur. Deshalb müssen wir Bauforschung mit all ihren Facetten auch in der ganzen Breite von der Antike bis ins 20. Jahrhundert lehren und keine hochspezialisierte Ausbildung anbieten. Allerdings müssen interessierte Studierende auch die Möglichkeiten haben, sich im Bereich Bauforschung zu qualifizieren, und dafür eignet sich besonders die Integration des potentiellen Nachwuchses in Forschungsprojekte.

Kein Bauforscher wird bestreiten, daß es innerhalb der Architektenausbildung wichtig ist, sich mit der Architektur des 20. Jahrhunderts und mit Architekturtheorie zu beschäftigen. Allerdings darf Architekturgeschichte oder Architekturtheorie nicht mit Bauforschung verwechselt und einfach durch diese ausgetauscht und damit ersatzlos gestrichen werden. Hier könnte die Einrichtung von Instituten eine Lösung darstellen, in denen die unterschiedlichen Fachrichtungen durchaus gewinnbringend zusammenarbeiten. Ein solches Institut müßte neben Bauforschern auch Architekten oder Kunsthistoriker, die schwerpunktmäßig Architekturgeschichte betreiben, Architekturtheoretiker und Denkmalpfleger umfassen und versuchen, in gemeinsamen Lehrveranstaltungen, idealerweise sogar in gemeinsamen Forschungsprojekten, die unterschiedlichen Ansätze zu vereinigen und so Nutzen aus den Stärken der einzelnen Disziplinen ziehen. Solche größeren Einheiten wären zugleich schlagkräftiger in der Außenwirkung und im Kampf um die immer knapper werdenden Mittel.

Bauforschung ist und wird – trotz einer Zunahme an historischer Bausubstanz und damit einer wachsenden Fülle von Aufgaben – in unserer Wissenschaftslandschaft ein sogenanntes kleines Fach bleiben. Die Bauforschung den Universitäten in Deutschland darf und wird als kleines Fach nicht untergehen, wenn wir klar machen können, daß eine verantwortungsvolle und zeitgemäße Architektenausbildung sich auch mit den Grundlagen unserer Kultur und damit unserer gesamten Baugeschichte befassen muss.

Anmerkungen

Anm. 1: In: Zentralblatt der Bauverwaltung, 44, 1924, Nr. 44 (29. Oktober 1924), S. 375ff, vgl.
Armin v. Gerkan 1924

Anm. 2: Ausführliche Darstellung: Wulf Schirmer: Bauforschung an den Instituten für Baugeschichte der Technischen Hochschulen, in: Johannes Cramer (Hrsg.): Bauforschung und Denkmalpflege, Stuttgart 1987, S. 25-29.

Vortrag, gehalten auf Anfrage des Deutschen Archäologen-Verbandes e.V. am 15. Juli 2002 in Greifswald.

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