Gottfried Gruben: Klassische Bauforschung

Das Forschungsgebiet

Die „Bauforschung“ behandelt alles, was mit dem Bauen zu tun hat. Die technische Bauforschung, eine junge, erst nach 1945 gegründete Disziplin, untersucht heutige Baumethoden und -materialien. Die historische Bauforschung versucht das ganze Spektrum des menschlichen Bauens, von der prähistorischen Hütte bis zum gegenwärtigen Hochhaus, vom Lehmziegel bis zur Stadtanlage, zu erforschen.(Anm. 1)

Das weite Feld der historischen Bauforschung umfaßt die Entdeckung (zum Beispiel durch Ausgrabung), die Dokumentation (zeichnerische Aufnahme, Foto, Modell, Beschreibung), die zeichnerische Rekonstruktion, die Konservierung und Restaurierung (Denkmalpflege), die Wiederaufrichtung (Anastilosis), die materielle Rekonstruktion sowie die Einordnung und das Verständnis im kulturellen Kontext (technisch, funktional, ästhetisch, historisch, religiös). Die Klassische oder Archäologische Bauforschung beschränkt sich zwar (gemeinsam mit der Klassischen Archäologie) auf ein Teilgebiet der Geschichte, die griechisch-römische Antike, ist aber historisch und methodologisch die „Mutter“ der Bauforschung seit dem 15. Jahrhundert.

Der hier umrissene Katalog von praktischen und theoretischen Aufgaben bildet das Arbeitsgebiet von Architekten, die Vermessung und Darstellung räumlicher Gebilde ebenso wie Konstruktion und Entwerfen beherrschen, die solide praktische Erfahrungen und, nicht zuletzt, eine breite historische Bildung besitzen. Fügen wir die conditio sine qua non hinzu: zeichnerisches Talent, Kombinationsfähigkeit, Formengedächtnis, schöpferische Phantasie verbunden mit pragmatischer Rationalität. Die Berufswahl ergibt sich meist aus Erlebnissen im Studium oder beruht auf romantischen Illusionen. Wenn daraus eine „Berufung“ wird, die vom Gegenüber, der antiken Architektur ausgeht, dann ist der weitere Weg auch über Hindernisse hinweg vorgezeichnet.

Die Bauwerke einer Epoche sind als historische und künstlerische Zeugnisse wahrhaft „umfassend“: als urbaner Lebensbereich der Gesellschaft, als Schale vergangenen Lebens, als monumentaler Ausdruck einer Kultur, als Gehäuse des Glaubens. Sie für unsere Gegenwart zu gewinnen und zu erhalten, ist eine bedeutende Aufgabe. Die „klassische“ Antike nimmt dabei den ersten Rang ein, vornehmlich wegen ihrer radikal-einfachen Lösungen, der plastischen Gestalt der griechischen Tempel und der Raumschöpfungen der römischen Kunst.

Umreißen wir zunächst das Arbeitsfeld des Bauforschers. Es beginnt mit dem Handwerk. Eine Ruine oder ein Ausgrabungsbefund ist zunächst exakt aufzunehmen, in Steinplänen, Ansichten und Schnitten, welche auch Details, zum Beispiel Klammern, deutlich wiedergeben sollten, also im Maßstab 1:50 bis 1:20. Dabei sind alle wichtigen Niveaus, und zwar Ober- und Unterkanten, einzutragen. Bauteile sind vollständig, das heißt von allen Seiten mit Winkelkontrolle und Werkspuren zu zeichnen (Maßstab 1:10 bis 1:1). Steine, mit denen man zunächst nichts anfangen kann, sollten als „Rätsel“ besonders genau erfaßt werden. Bei der Vermessung sind Theodolit und Nivelliergerät für die Einrichtung eines Quadratnetzes und exakter Meßpunkte unerläßlich. Moderne „Zauberbesen“ wie die Photogrammetrie oder digitale Methoden der Vermessung und Darstellung (CAD) sparen zwar tatsächlich Zeit, haben aber einen Nachteil: Der Apparat denkt nicht. Der Architekt hingegen ist, wenn er nicht selbst nur mechanisch arbeitet, gezwungen, jeden Stein beim Zeichnen zu betrachten und zu beurteilen, um die Zusammenhänge zu verstehen. Ähnlich steht es mit Grabungsschnitten, deren Anfertigung oft dem Grabungsarchitekten übertragen wird: Erdschichten, Gruben, Artefakte, Mauern klären sich beim (möglichst farbigen und naturalistischen) Zeichnen, verbinden sich räumlich mit anderen Schnitten, erzählen „Geschichte“. Schnitte müssen dabei stets räumlich, gewissermaßen gläsern, gesehen werden, in dauerndem Gespräch mit dem Archäologen, der die Funde bearbeitet. Bei Bauwerken operiert der Architekt lieber mit gezielten Schnitten, vor allem quer zu Mauern (Aufschlüsse über Baugruben, Fußböden, Verschüttung, Zerstörung). Der Archäologe zieht die von Sir Mortimer Wheeler in Mesopotamien perfektionierte Flächengrabung in fixierten Quadraten vor.(Anm. 2) Ein Kompromiß kann die Vorteile beider Methoden vereinen. Stets ist dabei aber die Partnerschaft beider Seiten die Voraussetzung für das Gelingen. Eine Ausgrabung ist so heikel wie eine Operation. Wenn die Erde abgehoben ist, ohne ihre Informationen hergegeben zu haben, ist der Patient unwiederbringlich verloren. Beide Partner sollten in eigenen Tagebüchern jeden Schritt des Grabungsprozesses festhalten und diskutieren.

Die nächste Stufe ist die zeichnerische Rekonstruktion. Das bedeutet zunächst die Klärung aller Aussagen der Stratigraphie für das ergrabene Bauwerk (Datierung, Abfolge der Mauern, Reparaturen, Ausraubung, sogenannte „Geistermauern“,(Anm. 3) Zerstörung, Sturzlagen). Damit kommt man der Ergänzung lückenhafter Fundamente zum Grundriß vom Boden her näher. Von oben her erreicht man durch das Einpassen zugewiesener Bauglieder, zum Beispiel von Säulen oder Architraven, eine dreidimensionale Präzisierung des Bauwerks. Der Weg dorthin führt über ein räumliches Puzzle-Spiel, von dem die meisten Teile zerbrochen oder verloren sind. Doch im Gegensatz zum zweidimensionalen Kinder-Puzzle wird das Spiel desto komplexer, je mehr Steine verfügbar sind. Beim Tempel von Sangri auf Naxos zum Beispiel waren 1600 meist fragmentarische Werkstücke, alle auf Karten aufgenommen, zusammenzufügen.(Anm. 4) Das Spiel hat zehn Sommer lang gedauert, erbrachte dafür aber eine lückenlos gesicherte Rekonstruktion. Verfügt man hingegen lediglich über wenige charakteristische Bauteile und einen Fundamentrest, ist schnell ein ganzer Bau zusammengezimmert, da das System nach Analogien anderer Beispiele einfach übernommen wird. Ebendieses Verfahren führt meist zu einer Kette von Zirkelschlüssen. So wurde der Eckakroter des Aphaia-Tempels von Aigina 1853 als Greif rekonstruiert, bis der Oberkörper einer Sphinx dazu gefunden wurde. Inzwischen war aber der Greif auf eine ganze Reihe von rekonstruierten Tempeln und an dieser Rekonstruktion orientierten klassizistischen Kulturbauten mit Greifen gewandert. Der bereits 1904 rekonstruierte Athena-Tempel von Priene ist mittlerweile architekturgeschichtlich umrahmt von nach seinem Vorbild ergänzten „Verwandten“, die dank ihrer Anleihen an den Befund in Priene eine homogene Gruppe vortäuschen. Daraus folgt ein leider oft verletzter Grundsatz, der bereits im 17. Jahrhundert von Antoine Desgodetz vertreten wurde: Bei einer zeichnerischen Rekonstruktion sind in situ erhaltene Teile deutlich von ergänzten zu unterscheiden.

Damit kommen wir zu der für den Architekten, der lieber zeichnet als schreibt, oft mühsamsten Aufgabe. Die Ergebnisse müssen vollständig und verständlich dokumentiert und erläutert werden, sonst war nicht nur die Arbeit umsonst, sondern es gehen die Erkenntnisse über die dem Verfall ausgesetzte Ruine verloren. Pläne, Schnitte, Einzelaufnahmen müssen für den Druck meist in Tusche umgezeichnet werden, stets mit Maßstab, da sie in der Regel verkleinert werden. Fotos ergänzen die Darstellung. Isometrien und Perspektiven, eventuell auch Modelle, tragen zur Anschaulichkeit bei, bergen aber die Gefahr, daß sie wie gesicherte Fakten in die Handbücher gelangen, auch wenn sie weitgehend hypothetisch sind. Der Text – Baubeschreibung, Katalog der Bauteile, Begründung der Rekonstruktion, baugeschichtliche Einordnung – sollte unbedingt von dem verantwortlichen Bearbeiter selbst geschrieben werden, wenn auch durchaus in partnerschaftlicher Arbeitsteilung mit dem beteiligten Archäologen.(Anm. 5) Das immer noch praktizierte „wortlose“ Abliefern der Zeichnungen führt zu einer Verfremdung und Demontage der vom Architekten geleisteten Arbeit.

Ein ausgegrabenes Areal muß selbstverständlich konserviert und denkmalpflegerisch gestaltet werden, wenn es nicht wieder zugeschüttet werden kann (was die radikalste und sicherste Konservierung darstellt). Dabei ist der Architekt unerläßlich. Verstreut gefundene Bauglieder können anschaulich an ihrem richtigen Ort aufgestellt oder zu „Architekturproben“ zusammengefügt werden. Auch die bewahrende Restaurierung noch stehender Bauwerke ist eine zwingende Verpflichtung. Man denke nur an den Parthenon in Athen, wo Außerordentliches geleistet wird.

Ein umstrittenes Kapitel stellt die Anastilosis (Wiederaufrichtung) eines gestürzten Monumentes dar. Der Wunsch, ein Bauwerk möglichst in alter Form wiederherzustellen, ist zwar angesichts des Massentourismus und der öffentlichen Wirkung allzu verständlich, kann aber kein genuin wissenschaftliches Anliegen sein, da mit den stets unumgänglichen Ergänzungen die Authentizität der Ruine verloren geht.(Anm. 6) Die erste Anastilosis, die Wiedererrichtung des Nike-Tempels von 1836, ist so überzeugend gelungen, daß sie zweifelhaftere Versuche nach sich zog. Auch ist die Grenze zur Rekonstruktion, welche die Charta von Venedig ausdrücklich untersagt, fließend. In jedem Fall muß der Bauforscher, dem eine Anastilosis angetragen wird, das Pro und Kontra gewissenhaft abwägen.

Ein Gebiet, in dem sich die Kompetenzen des Bauforschers und die des Archäologen oder auch des Kunsthistorikers überlagern, bildet die Architekturgeschichte. Hier geht es um die übergreifende Darstellung der Architektur von Epochen oder Landschaften, um die typologische Gruppierung von Bauten, um Bauplastik und -ornament, um stilistische und ästhetische Entwicklungen, um schriftliche Zeugnisse – um Gebiete also, die dem geistesgeschichtlich orientierten Archäologen oft zugänglicher sind als dem Architekten. Grundlegende Analysen und Zusammenfassungen zu diesen Themen haben deshalb auch Archäologen beigetragen, und oft zugleich Schulen von Architekturhistorikern begründet.(Anm. 7) Hier führt ein dialektischer Agon zwischen den beiden Disziplinen, welche den gemeinsamen Gegenstand von verschiedenen Standpunkten aus betrachten, zu einem komplementären, allseitigen Bild. Allerdings muß der Architekt, der die Technische Universität und seine praktischen Lehrjahre absolviert hat, im geistesgeschichtlichen Selbststudium einiges nachholen. Gerade dies aber wird durch den ständigen Umgang mit historischer Baukunst angeregt und bildet wiederum die Grundlage für die Lehre, die den erfahrenen Bauforscher für die Ausbildung von jungen Architekten in den Fächern Baugeschichte, Bauaufnehmen und Denkmalpflege an einer Hochschule qualifiziert, womit sich der Kreis schließt.

Die Stationen der in Deutschland üblichen Ausbildung eines Archäologischen Bauforschers seien kurz markiert: Studium an einer Architekturfakultät mit Promotionsrecht, Betonung einschlägiger Fächer, in den Semesterferien möglichst Teilnahme an Grabungen als Praktikant. Nach einem guten Diplom Assistenz an einem Lehrstuhl mit eigenem Forschungsthema oder Teilnahme an einer größeren Grabung und einem ausbaufähigen Projekt, vielleicht mit einer kleineren Untersuchung als erster Veröffentlichung. Das einjährige Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts ist als ungebundene Studienreise gerade für den Bauforscher, der mehr von den Denkmälern als aus Büchern lernt, unentbehrlich. Nach der Promotion – meist im Rahmen eines Forschungsprojekts – eröffnet sich dem Bauforscher, der Gelegenheit hat, in seinem Feld weiterzuarbeiten, ein großes Feld, da sein Thema ja das Bauen ist, so weit und solange Menschen auf der Erde gebaut haben – vom Neolithikum bis zur Gegenwart. In der Realität ist jedoch eine Spezialisierung unumgänglich, die sich nach Neigungen, Vorarbeiten und den oft schwierigen Berufschancen richten muß.

Zur Geschichte der Bauforschung

Die Wiedergeburt der Antike und die Suche nach Vorbildern

Eine Geschichte der Baugeschichte ist bisher nicht vorgelegt worden.(Anm. 8) Ihre Vertreter sind zu pragmatisch mit ihren Objekten beschäftigt, um über ihr Tun und dessen historische Wurzeln zu reflektieren. Ich kann hier nur einige Mosaiksteine beitragen, die der Leser sich zum Bild ergänzen möge. Dabei steht Griechenland, mein Arbeitsgebiet, im Vordergrund.

Unser Ahnherr heißt Vitruv. Er schrieb ein dem römischen Kaiser Augustus gewidmetes Lehrbuch De architectura, das praktische Anweisungen zum Bauen mit geschichtlichen Grundlagen verbindet, die bis in die archaische Zeit zurückreichen. Leider sind die zugehörigen Zeichnungen nicht erhalten. Vitruvs Entwicklungstheorien über die dorische und ionische Ordnung sind heute noch so aktuell und umstritten wie vor zwei Jahrtausenden. Das Mittelalter kannte Anweisungen für das richtige Entwerfen und Bauen zum Beispiel in Form von Hüttenbüchern, doch fehlte die historische Dimension.

Ein neuer Anstoß zur „Baugeschichte“ erfolgte erst im 15. Jahrhundert durch das erwachende Interesse der Renaissance an antiken Vorbildern und Texten. Damit fiel 1414 die Entdeckung eines vollständigen Exemplars der Schrift Vitruvs zusammen, die sofort zur „Bibel“ der Architekten erhoben wurde. Fra Giocondo illustrierte 1513 den schwer verständlichen Text, nach ihm im Jahr 1556 Andrea Palladio. Diese Zeichnungen sind schöpferische Rekonstruktionen. Der Architekt Filarete projektierte nach 1451 eine ldealstadt für die Herzöge von Mailand in Anlehnung an Vitruv. Leon Battista Alberti begann antike Bauten zu studieren und gab 1452 einen kritisch überprüften „Gegen-Vitruv“ heraus. Er verwendete und verwandelte antike Bauten und Proportionen für seine eigenen „modernen“ – der Ausdruck kam damals auf – Entwürfe, so zum Beispiel die Maxentius-Basilika in Rom, die als Tempel des Friedens galt für Sant Andrea in Mantua. In Rom und Umgebung setzte ein eifriges Antikenstudium der namhaften Architekten ein. Die erhaltenen Skizzen und Bauaufnahmen sind heute eine unentbehrliche Quelle für die Erforschung seitdem verschwundener Denkmäler. Raffael wurde 1514 vom Papst zum Baumeister der Peterskirche und 1515 zum Denkmalpfleger von Rom ernannt und gab ein vorbildliches Memorandum zum Schutz und zur fachgerechten Aufnahme (mit Grundriß und Aufriß!) der antiken Ruinen heraus,(Anm. 9) ein Vorbild, das später allerdings kaum befolgt wurde. Zur gleichen Zeit fing man auf der Suche nach Statuen an auszugraben. Die in der verschütteten römischen Prachtvilla des Nero, den grotte, entdeckten Wanddekorationen wurden gezeichnet und gingen als „Grottesken“ in das Ornament-Repertoire ein.

Hier wären viele berühmte Namen von forschenden Architekten zu nennen, für die nur einer stehen soll: Andrea Palladio. Schon sein Name – nach Pallas Athene – bezeichnet ein Programm, noch mehr seine Bauwerke, welche vornehmlich die klassisch geprägten römischen Monumente in reinen und strengen Formen weiterführten. Für die Zukunft bestimmend blieb aber sein Hauptwerk, I quattro libri dell’architettura von 1570, in dem er fünfundzwanzig römische Bauwerke, ergänzt mit Grundriß, Ansicht, Schnitt und Details, sorgfältig vermaßt und kommentiert vorführt. Ebenso stellt er die Säulenordnungen und seine eigenen Werke dar. Diese „Bauforschung“ und Dokumentation, die einige seitdem gänzlich verlorene Monumente überlieferte, hat sich über Europa verbreitet; Architektur-Traktate transportierten die „moderne“ Renaissance-Architektur und setzten zugleich Maßstäbe für die strenge Darstellung von Gebäuden. Mit dem Manierismus und Frühbarock ließ der unmittelbare Forschungsdrang nach, weil sich die eigene Bauästhetik von den antiken Vorbildern emanzipiert hatte.

Im 17. Jahrhundert kam dann ein neuer Anstoß aus Frankreich. Die von Ludwig XIV. im Jahr 1671 gegründete Académie Royale d’Architecture (seit 1795 École des Beaux-Arts) sandte 1678 den Architekten Antoine Desgodetz mit dem Auftrag nach Rom, die wichtigsten antiken Bauwerke aufzunehmen. Das mit unbegreiflicher Arbeitskraft in zwei Jahren vermessene und gezeichnete Resultat erschien 1682 als Folio-Band in Paris: Édifices antiques de Rome. Mesurés très exactement mit Aufnahmen von vierundzwanzig Monumenten in bis heute kaum erreichter Exaktheit und Anschaulichkeit. Die Publikation war der Vorläufer einer neuen Romwelle. Seit der Gründung der Académie de France à Rome (1633) und der Verleihung des Grand Prix de Rome mit einem vierjährigen Stipendium in der Villa Medici vollendeten die begabtesten Architekten Frankreichs ihre Ausbildung mit einer prachtvollen antikischen Rekonstruktion, die allerdings oft eher einen Phantasie-Entwurf darstellte. Die Italiener Giovanni Battista Piranesi und Giovanni Paolo Panini standen als Zeichenlehrer in Verbindung mit den Stipendiaten, was zu wechselseitigen Eskalationen der Phantasie antrieb. Diese Praxis führte einerseits zu perfekten Bauaufnahmen, zum Beispiel der Trajanssäule, andererseits zu den architektonischen Alpträumen der Carceri Piranesis und zu den erdrückenden, erratischen Visionen von Claude-Nicolas Ledoux und Etienne-Luis Boullée im Vorfeld der französischen Revolution.

Im 18. Jahrhundert trat auch die griechische Architektur ins Blickfeld. 1750 erlebte Jacques-Germain Soufflot, der spätere Hofarchitekt Ludwigs XV. und Erbauer des Panthéon in Paris, die Tempel von Paestum, die einen überwältigenden Eindruck auf ihn machten. Die alsbald folgenden Publikationen wurden aber weit übertroffen von Piranesis. Darstellungen (1778). In Paris wurden nun wuchtige dorische Säulen Mode.

Eine breitere europäische Wirkung ging von Johann Joachim Winckelmann aus. Auch er stand 1758 vor den drei Tempeln von Paestum, kam allerdings über eine genaue, doch trockene Beschreibung nicht hinaus.(Anm. 10) Aber Winckelmann öffnete mit seiner sensitiven, genau unterscheidenden Beschreibung der in Rom angehäuften Kunstwerke erstmals den Blick auf die Grundlage der griechischen Klassik. Mit seiner epochalen Geschichte der Kunst des Altertums von 1764 begründete er die vergleichende Betrachtung und auch das Modell einer kontinuierlichen Entwicklung der Kunst. In Europa begann der strenge, ruhige Stil des Klassizismus. Die jungen Architekten des Prix de Rome wandten sich nun auch den Tempeln in Süditalien und Sizilien, seit 1845 denen in Griechenland zu. Die Farbigkeit der Bauten wurde entdeckt und diskutiert (Carl Haller von Hallerstein, Jakob Ignaz Hittorff, Leo von Klenze, Gottfried Semper), stilistische Wandlungen von Bauformen und Ornamenten wurden – nach dem Beispiel Winckelmanns – verglichen und zugeordnet. Je mehr aber die anspruchsvolle wissenschaftliche Erfassung der Monumente zunahm, desto weiter entfernten sich diese Aufgaben vom gleichzeitigen Berufsbild der Architekten.

Nach ihrem außerordentlichen Anlauf zur Bearbeitung der Antike verschrieb sich die französische Bauforschung – weiterhin in unlösbarer Verbindung mit dem aktiven Bauen – der historischen Vielfalt, beginnend mit Napoleons von einem wissenschaftlichen Stab begleiteten Feldzug nach Ägypten, über Empire, Neugotik und Neorenaissance zum Historismus. Der eigene Zeitstil lief den antikischen Grundlagen gewissermaßen davon. Dabei haben drei Architekturforscher durch ihr enzyklopädisches Wissen überragendes geleistet: Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc sowie Georges Perrot und Charles Chipiez.(Anm. 11) Es ist die große Zeit der Restaurierung der durch die Revolution beschädigten gotischen Kirchen. Der Prix de Rome wurde weiterhin verliehen und damit die elitäre Schulung an antiker Architektur weitergeführt, nur daß nun die „modernen“ Meisterwerke der Renaissance aus dem Schatten traten; sie fanden in Paul Marie Letarouille ihren meisterhaften Darsteller.(Anm. 12)

Der Prix de Rome, sicher die großzügigste Ausbildungsförderung für Architekten, bestand bis in das 20. Jahrhundert (1968), als seine stilbildende Aufgabe schon längst überholt war. Henri Labrouste, Stipendiat in Rom von 1824 bis 1830, beschäftigte sich mit den Tempeln von Paestum und ihrer Polychromie. Acht Jahre später errichtete er in Paris seine beiden Bibliotheken – Meisterwerke der frühen Eisenkonstruktion. 1870 erklärte Charles Garnier, der Erbauer der Pariser Oper, die archäologische Bauforschung und die Archäologie seien Wissenschaften, die man den „trockenen Früchten“, den fruits secs, überlassen solle. Und J. Guadet deklarierte 1882 die Archäologie sogar zum Feind des schöpferischen Architekten: L’archéologie, voilà l’ennemi. Tony Garnier erhielt 1899 den Prix de Rome und erarbeitete während seines Stipendiums seine Cité industrielle, ein Pionierwerk der Moderne. Da tat sich eine Kluft zwischen Archäologen und Architekten auf, die sich bis heute nicht geschlossen hat.

Italien, die Heimat der „Wiedergeburt der Antike“, wurde im 18. Jahrhundert die Heimat der Architekturvedute, welche die objektive Darstellung fast völlig verdrängte. Die englischen noblemen, die ihre Grand Tour absolvierten, bildeten eine reiche Kundschaft. Der geniale, vom „Fieber der Erfindungen“ umgetriebene Giovanni Battista Piranesi(Anm. 13) überragte die ganze tüchtige Stecherzunft. Seine verzauberten vibrierenden Veduten halten ein „Über-Rom“ fest. Als Wissenschaftler versuchte er, die Überlegenheit der heimischen römischen und etruskischen Architektur über die griechische zu beweisen. Er untersuchte technische Geräte und erforschte zum Beispiel den 2 km langen unterirdischen Abfluß des Averner Sees. Sein Sohn Francesco setzte sein Werk bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fort, vor allem mit der Vollendung der Stiche der Tempel von Paestum, die den Blick auf griechische Architektur eröffneten, und durch die bis heute vollständigste und genaueste Bauaufnahme des Pantheon in Rom – ein exemplarisches Werk, in dem er verschiedene Bauperioden nachzuweisen suchte. Dennoch, die Herrschaft der Vedute, heute abgelöst durch Fotoapparat und Postkarte, blieb auch im 19. Jahrhundert ungebrochen und hat wohl die weitere Entwicklung der maßstäblichen, objektiven Bauaufnahme, welche die Voraussetzung für jede Erforschung ist, bis in unser Jahrhundert behindert.(Anm. 14)

England entwickelte im 17. und 18. Jahrhundert durch die begeisterte Aufnahme Palladios fast eine Architekturreligion der antikischen Klarheit. Inigo Jones und Christopher Wren begründeten einen strengen, klassischen Barock. Colin Cambell ging bis zu genauen Nachbauten, zum Beispiel der Rotunda von Palladio. Der bauende und der forschende Architekt vereinten sich in England stets in derselben Person. Das stellt eindrucksvoll das Londoner Wohnhaus von John Soane, heute Museum, vor Augen. Soane hielt bereits Vorlesungen an der Royal Academy. Aus der eigentümlichen Verbindung von Praxis und Theorie ergab sich der Ruf nach der Erforschung bisher unbekannter Ruinen. Unterstützt durch die Möglichkeiten des britischen Empire, erforschten und publizierten Robert Wood und James Dawkins Palmyra (1753) und Baalbek (1757); diese unerhörten hellenistisch-römischen Großbauten erschlossen eine neue historische Perspektive. 1764 folgte die meisterhafte Untersuchung und Darstellung von Robert Adam – einem der stilbildenden Architekten seiner Zeit – über den Palast des Kaisers Diokletian in Spalato (Split). Schon 1732 hatte sich die Society of Dilletanti konstituiert, eine Gesellschaft wohlhabender Kunstliebhaber und Amateur-Architekten, die historische Forschungen unterstützte. Mit ihrer Förderung reisten die Architekten James Stuart und Nicholas Revett 1751 in das damals türkische Athen,(Anm. 15) um in dreijähriger Arbeit die Denkmäler der halbvergessenen Provinzstadt in dem von Antoine Desgodetz gesetzten Standard aufzunehmen. Ihr 1762 erschienenes Werk The Antiquities of Athens, eine Inkunabel der Bauforschung, gab endlich den Blick frei auf die Baukunst der griechischen Klassik, die schon Palladio hinter den römischen Tempelfassaden gesucht hatte.(Anm. 16) Das Werk wurde mit weiteren Mitarbeitern, darunter später berühmten Baumeistern, fortgesetzt. Bis 1815 erschienen fünf Bände der Antiquities of Ionia , ein grundlegendes Corpus der ionischen Architektur. Diese Vorbilder gaben der europäischen Baukunst eine andere Richtung: zum griechischen Klassizismus. Weiterhin studierten und erforschten englische Baumeister griechische Monumente und verarbeiteten ihre Erfahrungen in eigenen Werken, so Charles Robert Cockerell (1811-14 in Griechenland), William Wilkins, Sir Robert Smirke (der Erbauer des Britischen Museums), John P. Gandi, Henry William Inwood und andere.(Anm. 17) Der englische Ingenieur-Offizier William Martin Leake begründete mit seiner Topography of Athens 1821 die archäologische Topographie. Als 1821 der griechische Befreiungskrieg losbrach, wurde die Erhebung von Engländern, voran Lord Byron, unterstützt – von Engländern, die vorher Teile der Parthenon-Plastik, eine Kore und eine Säule des Erechtheion aus Athen sowie den Fries des Apollontempels aus Phigalia/Bassai (Cockerell) in das „hellenische“ Britische Museum geholt und damit die Griechenland-Begeisterung in Europa entzündet hatten.

Die Einheit der Person von entwerfendem und forschendem Architekten blieb auch nach der Gründung des griechischen Staates (1830) bewahrt. Doch eben deshalb erlosch in England wie in Frankreich während des 19. Jahrhunderts der Elan für die Erforschung der griechischen Architektur: Die Neugotik, die Pluralität der Stile, die Suche nach neuen Zweckformen für Wohnungs- und Industriebau verdrängten den Klassizismus und mit ihm die aktiven Architekten aus der entsprechenden Forschung, bevor sich ein auf Klassische Bauforschung spezialisierter Berufszweig ausbilden konnte. Bis heute kommt deshalb die englische Klassische Archäologie weitgehend ohne Bauforscher aus und zieht von Fall zu Fall Zeichner hinzu. Natürlich gab und gibt es bedeutende Ausnahmen: Der Mathematiker, Astronom und Architekt Francis Penrose zum Beispiel studierte mit Hilfe verfeinerter Meßmethoden die refinements des Parthenon, die Kurvaturen, Neigungen und Schwellungen, welche die plastischen Spannung des scheinbar orthogonalen Bauwerks bewirken.(Anm. 18) Er öffnete damit den Blick für ein meßbares organisches „Atmen“ der klassischen Baukörper, das die klassizistische Sicht der „reinen Geometrie“ aufhob.

Die Ausbildung einer wissenschaftlichen Disziplin

Das 19. Jahrhundert steht im Zeichen einer ungeheuren Expansion der Archäologie und Bauforschung durch systematische Ausgrabungen und Untersuchungen antiker Ruinen. Zwei Faktoren lenkten dabei die Energien auf das antike Griechenland: der „griechische“ Klassizismus und die Gründung des griechischen Staates, der 1830 von den europäischen Großmächten bestätigt wurde und 1832 einen philhellenischen König aus Bayern erhielt. Auch die Westküste der Türkei stand für Ausgrabungen offen. Der Erfolg der archäologischen Unternehmungen, die Gründung großer Antikenmuseen und die nationale Konkurrenz steigerten zusehends Anspruch und Systematik der strategisch geplanten „Kampagnen“. Da überall Kunstwerke gesucht, aber hauptsächlich Bauwerke gefunden wurden, wuchs der Bauforschung eine Schlüsselrolle zu.

Die griechische Architektur bildete die erste Stufe wissenschaftlicher Bearbeitung. Nach der Großtat von Stuart und Revett, die sich auf die Aufnahmen stehender Ruinen beschränkt hatten, standen wiederum Engländer an der Spitze. Wilkens studierte zunächst die Bauten in Athen, um auf dieser Grundlage die Tempel Großgriechenlands, also Unteritaliens und Siziliens, zu erforschen.(Anm. 19) Auch Cockerell setzte seine grundlegende Bearbeitung der Heiligtümer von Aigina und Bassai mit dem Studium der Tempel von Agrigent fort, vor allem des einzigartigen Zeus-Tempels mit seinen Atlanten.(Anm. 20)

Eine neue Chance für die übernationale Forschung lag in der Vereinigung Xeneion, die 1811 als Bund der Freunde Griechenlands „auszog, um Monumente zu entdecken und zu dokumentieren“. Mitglieder waren die Engländer Ch. Cockerell und J. Foster, die Deutschen C. Haller von Hallerstein (gemeinsam mit Schinkel und Klenze ein Schüler von David Gilly) und Jakob Linckh, der Däne Peter Oluf Brönsted und der kunstsinnige baltische Baron Otto Magnus von Stackelberg.(Anm. 21) Ihr erstes „Abenteuer“, der Aphaia-Tempel auf Aigina, brachte große Überraschungen: zunächst die Farbigkeit der Architektur, dann die Reste der Giebelfiguren. Sofort wurde ausgegraben, die Skulpturen wanderten über eine Versteigerung auf Malta in die neu geplante Glyptothek von München. Die in der Werkstatt Bertel Thorwaldsens ergänzten Giebelfiguren erregten Aufsehen in ganz Europa. Der sorgfältig aufgenommene spätarchaische Tempel hingegen wurde erst 1860 von Cockerell publiziert. Die nächste Expedition galt 1812 dem hoch in den arkadischen Bergen gelegenen, von Pausanias gerühmten Tempel von Bassai, auch hier zunächst mit den reinsten Absichten zur Erforschung der Architektur. Hallers erhaltene Aufnahmezeichnungen gehören zum Vollendetsten dieser Art. Als aber die Forscher in ein Loch schauten, wo sich ein Fuchs über einer Reliefplatte seine Höhle eingerichtet hatte, gab es kein Halten: Ausgrabung, Verschiffung, Versteigerung des 30 m langen Frieses, der dann an das Britische Museum ging. Der Tempel, ein originelles Spätwerk des lktinos, des Architekten des Parthenon, wurde 1826 von Stackelberg und 1860 von Cockerell veröffentlicht. Über seinen Entwurf rätseln wir heute noch. Eine vollständige Abtragung der Ruine und ihre Neuerrichtung wird gegenwärtig vorbereitet; diese Attraktion für den Tourismus bedeutet aber das Ende des authentischen Monuments.

Im 19. Jahrhundert teilte sich die Archäologische Bauforschung deutlich in nationale Zweige auf, die wir differenziert betrachten wollen.

Zur gegenwärtigen Situation

Der Erste Weltkrieg setzte der imperialen Archäologie ein Ende. Die Bauforschung war von ihrem Feld abgeschnitten und wurde an den Hochschulen angesichts der Notlage zum Bildungsfach reduziert. Im Existenzkampf nach 1918 fanden sich keine idealistischen Architekten mehr, die ihren Beruf ohne sicheres Auskommen auf die Erkenntnis der Vergangenheit setzen wollten – abgesehen vom tiefen Umschwung, den das „Neuen Bauen“ brachte, eine Architektur jenseits der Geschichte. Diese Krise der Bauforschung beschrieb Armin von Gerkan, ein ebenso bedeutender wie kritischer Wissenschaftler, 1924 in einem programmatischen Aufsatz über die Lage der gegenwärtigen Bauforschung. Er war es, der dabei den Terminus Bauforschung prägte und deren baldigen Stillstand prognostizierte.(Anm. 34) Sein Aufruf bewirkte, daß sich dreiundzwanzig damals aktive Bauforscher 1926 zur Gründung der bis heute wirkenden Koldewey-Gesellschaft zusammenfanden, welche das Fach repräsentieren sollte.(Anm. 35) Der selbstbewußte Verein, der heute zweihundert Mitglieder aufweist, konnte sowohl an den Technischen Hochschulen wie auch am Deutschen Archäologischen Institut einiges bewirken. Diese Ansätze wurden jedoch durch die NS-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg zunichte gemacht. Allerdings konnte seit 1935 – anläßlich der Olympiade von 1936 – wieder ertragreich in Olympia gegraben werden(Anm. 36); 1925 wurden die Grabungen in Samos unter Ernst Buschor mit den Architekten Oscar Reuther und Hans Schleif sowie 1929 die Grabungen in Tiryns und im Athener Kerameikos wieder aufgenommen.

Nach 1945 verschärfte sich die Krise. Hochschulen standen als Ruinen, der Krieg hatte Opfer gekostet, der Nachwuchs fehlte. Nur wenige Lehrstühle der Baugeschichte konnten vor 1950 mit kompetenten Vertretern der Baugeschichte besetzt werden, vor allem Berlin mit Ernst Heinrich, München mit Friedrich Krauss, Karlsruhe mit Arnold Tschira; in Darmstadt kam 1967 Wolfgang Müller-Wiener hinzu. Die Hochschulen konsolidierten sich, doch sind die „Aufgaben ungeheuer weit größer“ (so Gerkan 1926). Ein Schuldenberg aus dem Grabungsboom vor 1914 hat sich trotz vorbildlicher Publikationen aufgetürmt: Vor einhundert Jahren freigelegte Ruinen zerfallen ohne Dokumentation, zum Beispiel das in der dritten Generation bearbeitete Theater von Milet oder das Dipylon, das Doppeltor in Athen, das rätselhafte Pythion sowie das Artemision auf Delos, das Maussolleion von Halikarnass, das Olympieion in Athen. Wir könnten mit dem Schuldenregister seitenlang fortfahren. Bei römischen Ruinen gehören die angemessen bearbeiteten Monumente zu den Ausnahmen.

Hinzu kommt die notwendige Zweitbearbeitung von Monumenten, die auf neue Methoden und Fragen neue Antworten geben, so im Falle der griechischen Tempel in Segesta und Paestum, in Aigina und Priene und beim Apollon-Tempel in Delphi. Die Lehrstühle für Baugeschichte, deren Aufgabe vorrangig die Grundausbildung für die ganze, vornehmlich die neuere Baugeschichte ist, sind dem nicht gewachsen. Außerdem haben die Forschungsthemen sich vervielfältigt. Nach der Zerstörung der Städte und ihrer zweiten Zerstörung durch den Wiederaufbau ist die Denkmalpflege in den Vordergrund getreten. Man hat sehr bald erkannt, daß eine Sanierung ohne vorhergehende Bauaufnahme und -untersuchung schiefgeht. Die Methoden liefert die bewährte, durch Dörpfeld begründete Praxis der „klassischen“ Bauforschung. So gibt es zum Beispiel eine „Stratigraphie“ der Putzschichten nach gleichem Muster. Die Denkmalpflege, aufgespalten in „Entwerfen in alter Umgebung“ und „Bewahrung“ stellt neue, wichtige Aufgaben. Das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege gründete 1985 eine Abteilung für Bauforschung mit vier fest angestellten Bauforschern und etwa einhundert externen Mitarbeitern für die Bauaufnahme.(Anm. 37) Andere Denkmalämter folgten. Die Ausbildung lastet auf den Lehrstühlen für Baugeschichte und für Kunstgeschichte; die Professoren für Denkmalpflege haben meist mehr mit dem „angepaßten Entwerfen“ zu tun. In diesem Rahmen entwickeln sich neue Arbeitsgebiete, von der Stadt- und Hausforschung bis zur Industriearchäologie oder zur Bunkerforschung. Diese Aufsplitterung schwächt die traditionelle Bauforschung und die entsprechende Ausbildung. Damit kein Ende: An einigen Hochschulen wird die Kunstgeschichte – ein Grundfach für Architekten! – für überflüssig gehalten und mit der Baugeschichte zusammengelegt, meist in Händen eines Kunsthistorikers. Schinkels Einsicht, daß die geschichtliche Dimension der Baukunst mit der Praxis, mit dem Handwerk verschränkt ist und eine Sache von Architekten für Architekten sein muß, ist oft verlorengegangen. Hinzu kommen Sondergebiete Architekturtheorie und -soziologie. Es hat sich bei Neubesetzungen eine postmoderne Vielfalt ausgebreitet, die eine Bündelung der Kräfte vertut und das alte, aber buchstäblich grundlegende Ethos der Bauforschung „Stein auf Stein“ gegen intellektuelle Pluralität austauscht. Die beiden komplementären Fächer „Baugeschichte“ und „Kunstgeschichte“ dürfen an keiner Technischen Universität oder Technischen Hochschule, die ihren Namen verdient, fehlen.

Die Universitäten haben diesen Engpaß oft früher erkannt als manche Architektur-Fakultäten. An der Universität Köln wirkt eine Abteilung „Architekturgeschichte“ als Teil des Kunsthistorischen Instituts. In Berlin, dem alten Zentrum der Bauforschung, wurde eine entsprechende Professur dem Archäologischen Seminar der Freien Universität angegliedert, um ein Defizit an der Technischen Universität auszugleichen. In Bamberg hat sich ein Aufbaustudium für Bauforschung vornehmlich für Denkmalpfleger bewährt. Das sind wichtige Forschungszentren, nur fehlt ihnen für die Lehre oft die unabdingbare Voraussetzung eines vollen Architekturstudiums. Denn die grundlegenden Kenntnisse und Erfahrungen unseres Berufs werden beim Entwerfen und bei der Konstruktion vermittelt. Die Hoffnung auf Nachwuchs ruht einzelnen Fachhochschulen, in deren solider Architekturausbildung die Baugeschichte hervorragend vertreten ist. Ohne eine Konsolidierung der „Baugeschichte“ an den Architektur-Fakultäten stehen wir an dem Punkt, den Gerkans Kassandrarufe 1926 betrafen: „Wir müssen Nachwuchs haben und dazu auf Mittel und Wege sinnen.“ Nicht zu vergessen: Die Baugeschichtslehre dient nur nebenbei der Forschung. Sie gibt den jungen Architektinnen und Architekten das Fundament für ihr gegenwärtiges Bauen.

Das Deutsche Archäologische Institut (DAI) bildet das zweite Standbein der Bauforschung. Wilhelm Dörpfeld, seit 1882 (mit 29 Jahren) fest angestellt, seit 1886 Zweiter Sekretär (Direktor) und wenig später Leiter der Zweigstelle des Instituts in Athen, war der erste Bauforscher in Diensten des DAI. Er steht an der Spitze einer Reihe von tüchtigen Architekten, die als Direktoren oder Referenten einen erheblichen Anteil am Forschungsspektrum des DAI vom Iran bis nach Portugal und neuerdings bis nach Mittelamerika haben. Für die Synergie dieses weitgespannten Netzes und als Ausgleich für die abbröckelnde Bauforschung an den Hochschulen hat die Zentrale des DAI ein Architekturreferat eingerichtet, das auch eigene Forschungen durchführt – vor allem über die antike Stadt. Dieses neue Schaltzentrum der Bauforschung verspricht auch einen positiven Effekt für die Ausbildung, weil interessierte Architekturstudenten in Zusammenarbeit mit erfahrenen Forschem „durch Tun lernen“ können.

Werfen wir noch einen abschließenden Blick auf die klassische Architekturforschung anderer Länder. Die Lage in Österreich und der Schweiz entspricht der deutschen. Schwierige Aufgaben stellt die österreichische Großgrabung in Ephesos, auch mit ihren touristisch attraktiven, aber bedenklichen Rekonstruktionen. Die nordischen Länder sind, wohl dank ihrer bis in die moderne Architektur fortwirkenden klassische Tradition, an der Forschung mit eigener Stimme beteiligt, führend die Akademien in Kopenhagen und Upsala. Die Schwerpunkte liegen in Rom und Kleinasien. Die Stärke der französischen Forschung ist traditionell die Architektur-Archäologie, verbunden mit Epigraphik und Geschichte. Französische Überblicke, Architekturgeschichten und das Dictionnaire méthodique sind vorbildlich. Die „Bauforschung“, wie sie in Deutschland ausgebildet wurde, ist neuerdings im Kommen. Die Ausbildung hat zwar nur eine schmale Basis an den Écoles d’Architecture, doch soll die Lücke durch ein Aufbaustudium in Strasbourg geschlossen werden. Die Forschung wird gebündelt durch das neue Institut de Recherche sur l’Architecture Antique (IRAA) mit fast einhundert Mitarbeitern, an dem die Universitäten von Paris, Lyon, Aix-en-Provence und Tours teilnehmen. Das IRAA ist seinerseits eingebunden in das übergeordnete Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Bauforscher, die vor Ort die Ruinen bearbeiten, sind allerdings noch dünn gesät. In Italien ist die Architekturforschung fest in der Hand von Archäologen, was auch mit dem dortigen System der Antikenverwaltung zusammenhängt. Architekten werden von Fall zu Fall zugezogen. Es gibt zu viele Monumente; allein ihre Erhaltung übersteigt die Kräfte der besten Fachleute. In Griechenland verfügt der Archäologische Dienst über Architekten, die am Polytechneion, der Technischen Hochschule in Athen und in Thessaloniki, fachgerecht ausgebildet wurden. Die Forschungsarbeit, die auf der Athener Akropolis von Bauforschern, gewissermaßen als Nebenprodukt der Restaurierung, der Anastilosis geleistet wird, hat internationale Anerkennung gefunden. Auch in der Türkei haben sich jüngere Architekten in der Forschung qualifiziert. Die angelsächsische Bauforschung hat sich nach dem Krieg kaum verändert. Das berühmte Royal Institute of British Architecture (RIBA) bietet keine Ausbildung an. Ähnlich steht es in den USA. Das Archaeological Institute of America, dessen Ehrenpräsident der ältere Dinsmoor war, initiiert die vorbildlichsten Grabungen zunächst ohne Bauforscher. Aber – und das ist sehr amerikanisch – es finden sich dann irgendwoher interessierte Architekten ein, die als selfmademen ihre Aufgabe meistern.

Dieser abgekürzte Überblick kann zeigen, daß Archäologie und Bauforschung in einem internationalen Verbund wirken, bei dem keiner den anderen entbehren kann. Sind auch die Gewichte verschieden verteilt, so setzt sich doch überall die Erkenntnis durch, daß man Bauwerke konkret nur durch Architekten dokumentieren, verstehen und rekonstruieren kann, ebenso wie die Geschichte des Bauens nicht durch Theoretiker, sondern durch solche Architekten den Studenten weitergereicht werden sollte. Das Bauen bildet die stärkste kulturelle Konstante in der Geschichte der Menschheit, eine Achse durch die Zeiten. Die durch das Handwerk „tradierte Tradition“ des Bauens führte über Jahrtausende, ohne abzureißen. Die bewußte Geschichte gibt erst seit der Antike Rechenschaft darüber. In allen Wechseln und Brüchen diktierte das Gesetz von Tragen und Lasten die Grenzen jeder Veränderung. Auch in der Bauforschung hat sich die Arbeitsweise kaum verändert. Wir messen und zeichnen (trotz Theodolit und Computer-Zeichenprogramm CAD) wie Palladio; und wir forschen, auch wenn sich die Methoden verfeinert und die Ziele erweitert haben, fast ebenso wie er.

in: Klassische Archäologie. Eine Einführung (hrsg. von Adolf Heinrich Borbein, Tonio Hölscher und Paul Zanker). Berlin 2000, S. 251-279

1 Es wird nur für den Zusammenhang wichtige Literatur zitiert. Im Text werden lebende Forscher nicht genannt. Für die kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich den Kollegen W. Koenigs, D. Mertens, K. Nohlen, A. Ohnesorg, F. Rakob und W. Schirmer sowie besonders A. Borbein für die verständnisvolle Kürzung.

2 M. Wheeler, Archaeology from the Earth (1945). Wie der Titel andeutet, handelt es sich um meist prähistorische Erdgrabungen, wo die Stege zwischen den gegrabenen Quadraten ein Gitter von Schnitten ergeben. Bei einem dichten Baubefund muß man jedoch Grabung und Schnitte flexibel und gezielt nach den Mauern ausrichten. Wheeler verlangt zwar vom Direktor der Grabung „some specific architectural training“ (a.a.O. 133), hat aber im Staff keinen Architekten, sondern gleich drei Zeichner („draftsmen“, a.a.O. 145).

3 Der Archäologe Ernst Buschor und der Architekt Hans Schleif haben schon 1930 den Grundriß des 105 m langen von Rhoikos erbauten Hera-Tempels auf Samos aus den ausgeraubten Fundamentgräben erschlossen: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Athenische Abteilung 55, 1930, 72 ff.

4 G. Gruben, Die Tempel der Griechen (4. Auflage 1986), 342 ff.

5 Vorbildliche, aber seltene Produkte einer solchen Zusammenarbeit sind: R. Koldewey – O. Puchstein, Die griechischen Tempel in Unteritalien und Sizilien (1899) und F. Krauss – R. Herbig, Der korinthisch-dorische Tempel am Forum von Paestum (1939).

6 Vgl. H. Schmidt, Wiederaufbau (1993); G. Gruben, Kunstchronik 50, 1997, 657 ff.

7 Auf diesem Gebiet sind Frankreich und England führend, da dort im 20. Jahrhundert die „zünftige“ Bauforschung fast völlig ausgefallen ist. In Deutschland ist die Behandlung von Architektur und Urbanistik wegen ihrer gesellschaftlichen Relevanz wieder in den Vordergrund getreten.

8 Ansätze unter begrenzten Aspekten finden sich in den Tagungsberichten der Koldewey-Gesellschaft, vor allem 1955 und 1988; G. Grossmann, Einführung in die historische Bauforschung (1993); G. Stanzl, in: Fremde Zeiten, Festschrift J. Borchardt (1996), 319 ff.; J. Cramer (Hrsg.), Bauforschung und Denkmalpflege (1987), vor allem der Beitrag von W. Schirmer; R. Kurzrock (Hrsg.), Baugeschichte und europäische Kultur I (1985).

9 Vgl. Ch. Frommel (Hrsg.), Raffaello architetto (1984); G. Grimm, Antike Welt 29, 1998, 481 ff. mit Literatur. Wäre man der von Raffael gewiesenen Richtung gefolgt, so stünden zahlreiche antike Monumente noch, die der Bauwut der Päpste zum Opfer gefallen sind.

10 J. J. Winckelmann, Kleine Schriften und Briefe (1980), 201-219.

11 E. Viollet-le-Duc, Dictionnaire raisonné de l’architecture fran(aise (1854 ff.); G. Perrot – Ch. Chipiez, Histoire de l’art dans l’antiquité (1882 ff.).

12 P. M. Letarouille, Edifices de Rome moderne (1825-1868).

13 Vgl. J. Wilton-Ely, Giovanni Battista Piranesi (1978).

14 Eine rühmliche Ausnahme bildet Luigi Canina mit seinem sechsbändigen Werk Gli edifizi di Roma (1848).

15 Beide hatten vorher ihre Sporen in Rom verdient, indem sie den 1748 ausgegrabenen Obelisken der riesigen Sonnenuhr des Kaisers Augustus exakt zeichneten und rekonstruierten (Hinweise M. Korres).

16 Die gründliche Ausarbeitung dauerte von 1753 bis 1762. Inzwischen war ihnen ein Architekt der französischen Akademie in Rom, Julien David Le Roy, zuvorgekommen, der im pittoresken Stil Piranesis Les Ruines des plus beaux monuments de la Grèce bereits 1758 sehr erfolgreich herausbrachte, ohne jedoch die gewissenhafte Treue seiner Konkurrenten zu erreichen.

17 Vgl. M. Korres, in: Koldewey-Gesellschaft, 39. Tagung 1996, 11 ff.

18 F. Penrose, An Investigation of the Principles of Athenian Architecture (2. Aufl. 1988); Bis heute wird jedoch gelegentlich an der von Vitriv beigebrachten Erklärung dieser Abweichungen als „optische Korrekturen“ festgehalten.

19 W. Wilkins, The Antiquities of Magna Grecia (1807).

20 Ch. R. Cockerell, The Temple of Jupiter Olympicus at Agrigentum (1830).

21 Vgl. H.-G. Bankel, Haller von Hallerstein passim; W. Hautumm, Hellas (1983), 77 ff.

22 J. Travlos, Bildlexikon zur Topographie des antiken Athen (1971); ders., Bildlexikon zur Topographie des antiken Attika (1988).

23 A. Blouet, Expédition scientifique de Morée (1831-38).

24 M. G. F. A. de Choiseul-Gouffier, Voyage pittoresque de la Grèce I-III (1782-1822). Vgl. F.-M- Tsigakou, Das wiederentdeckte Griechenland (1982), 42 ff.

25 Paris – Rome – Athens (Ausstellungskat. Paris 1982).

26 Vgl. die urbanistische Analyse von A. Papageorgiou-Venetas, Delos (1981).

27 Tournaires Zeichnungen eröffneten den ersten Band der Delphi-Publikation von 1902.

28 Die Architekten der Académie de France à Rome sind im Ausstellungskatalog Roma Antiqua (1985), die der École Fran(aise d’Athènes im Katalog Paris – Rome – Athens (1982) mit hervorragenden Abbildungen dokumentiert. Zur Geschichte der französischen Bauforschung vgl. M.-Ch. Hellmann, Bulletin de Correspondance Hellénique 120, 1992, 191 ff.; dies., L’archeologia degli architetti 15, 1993, 55/3, 60 ff.

29 W. B. Dinsmoor bearbeitete grundlegend die Schatzhäuser zwischen 1912 und 1946. Der dänische Architekt E. Hansen legte mit seiner Publikation des Siphnier-Schatzhauses 1987 eine Meisterleistung unserer Bauforscher-Generation vor. Die klarste Zusammenfassung biete G. Maass, Das antike Delphi (1993) mit ausführlicher Literatur.

30 G. Riemann, Karl Friedrich Schinkel, Reise nach Italien (1979).

31 Unabhängig von Dörpfeld entwickelte zur gleichen Zeit der englische Offizier und Gutsherr Baron Pitt-River ähnliche Methoden der stratigraphischen Ausgrabung im prähistorischen Bereich. Vgl. F. G. Maier, Neue Wege in die alte Welt (1977), 137 ff.

32 Vgl. O. Hederer, Klassizismus (1976), 100 f.

33 Erschöpfend dargestellt von F. Hamdorf in: Ein griechischer Traum (Ausstellungskat. München 1986), 117 ff.

34 A. von Gerkan, Von antiker Architektur und Topographie (1959), 9 ff.; vgl. ebd. 99 ff.; Kursus für Bauforschung 1930.

35 Periodische Berichte der Koldewey-Gesellschaft, besonders 1955 und 1988 (C. Meckseper).

36 Vgl. 100 Jahre deutsche Ausgrabung in Olympia (Ausstellungskat. München 1972).

37 Vgl. den grundlegenden, den Spuren Gerkans folgenden Rechenschaftsbericht von G. Mader, in: J. Cramer (Hrsg.), Bauforschung und Denkmalpflege (1987), 34 ff. Ausführlicher zu Aufgaben und Methodik: M. Petzet – G. Mader, Praktische Denkmalpflege (1993). Dort wird auch aufgezeigt, daß die Kosten einer echten Sanierung mit vorbereitender Bauuntersuchung günstiger liegen als die einer Sanierung „ins Blaue“.

in:Klassische Archäologie. Eine Einführung (hrsg. von Adolf Heinrich Borbein, Tonio Hölscher und Paul Zanker). Berlin 2000, S. 251-279

page.php